Neuers Sündenfall
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am 29.04.2011 um 12:08 (19789 Hits)
Manuel Neuer wechselt nach München. Dagegen zu wetten dürfte Geldverbrennung sein und manch Schalke-Fan schien angesichts einer beängstigenden Entwicklung des eigenen Vereins bereit zu sein, den Wechsel zum verhassten Ligakonkurrenten als nachvollziehbaren und sportlich zwingenden Karriereschritt zu verzeihen. Doch Neuer arbeitet konsequent daran, weite Teile der Schalker Fan-Familie nachhaltig gegen sich aufzubringen. Der Liebesentzug hat schon begonnen, die Ultras haben Neuer rausgeworfen.
Der „Blaue Brief“ wird auch Manuel Neuer mittlerweile erreicht haben, in dem die Ultras GE das einstige Vorzeigemitglied aus ihrer Gemeinschaft ausschließen. Man könne kein Schalker Ultra sein und gleichzeitig ausgerechnet für den FC Bayern mit aller Macht versuchen, Schalker Niederlagen herbeizuführen und womöglich durch seine Fähigkeiten dazu beizutragen, den Traum von der Meisterschaft noch länger unerfüllt zu lassen. Die klare Ansage: Geh ins Ausland, bleib glaubwürdig und als Schalker Ikone erhalten.
Schalker Spieler, die nach München wechseln? Ja, da gab es welche und der Name Olaf Thon ist weitaus mehr im Gedächtnis geblieben als Thomas Linke (trotz dessen Erfolgen). Seinerzeit, als Thons Stern mit seinem spektakulären Auftritt im Pokal aufging, spielte Schalke in der zweiten Liga und brauchte dringend die Millionen, die Uli Hoeneß zu überweisen gedachte. Thon wurde bei jedem seiner Auftritte im Parkstadion wie der verlorene Sohn begrüßt und kehrte schließlich als Held zurück.
Sollte auch Neuer vorhaben, dereinst seine Karriere auf Schalke zu beenden, wird er für die Liebe der Fans größere Hürden überwinden müssen. So sehr sich alle Schalker auch wünschen, Sir Alex Ferguson möge ein Angebot abgeben, das die deutsche Nr. 1 zum Nachdenken bringt – Neuer wird dennoch bald mit dem Bayern-Logo auf der Brust in die Veltins-Arena einlaufen. Die Absprachen zwischen Neuer und Hoeneß scheinen zu lange zu klar zu sein.
Also arbeiten Neuers Berater, der Spieler und die Vereinsführung der Bayern wie in einer Schmierenkomödie die gesamte Bandbreite ab, um den abgebenden Verein zu erpressen. Dabei werden auch die dümmsten Plattitüden verbreitet, wie dass der deutsche Nationaltorhüter beim FCB spielen muss (was historisch gesehen vollkommener Unfug ist) und ein Torhüter erst sein absolutes Top-Niveau erreichen könne, wenn er ständig auf Champions-League-Niveau gefordert ist. Die breite Öffentlichkeit glaubt es, das ist das Wichtigste.
Neuers Pressekonferenz, auf der er gefühlsbetont so tat, als habe es noch nie einen Kontakt zu Bayern München gegeben, fand nicht umsonst vor den wichtigsten Spielen der Vereinsgeschichte statt. Die Unschuldsmine diente dabei ausschließlich dem Schutz der Bayern, um deren irreguläres Baggern am Schalker Torwart nicht offenlegen zu müssen.
Die Abnabelung von den Fans ist durchaus strategisch eingefädelt, um die Gegner einer Neuer-Verpflichtung auf der anderen Seite zu besänftigen. Denn bei den Bayern-Ultras stößt Neuer auf eine Ablehnung, die ihm noch zu schaffen machen könnte. Der Spieler soll hinsichtlich seiner Schalker Vergangenheit neutralisiert werden. Und schließlich geht es darum, die Wechselmodalitäten in für die Bayern erträglichen Grenzen zu halten. Frei nach dem Motto: Je weniger Ablöse, desto mehr können Berater und Spieler an Gehalt und Prämien verbuchen.
Nüchtern betrachtet ist das branchenüblich. Bei Manuel Neuer ist die Erwartungshaltung zu Recht eine andere. Denn wer sich derart als Fan und Integrationsfigur generiert, muss sich an diesem selbstgewählten Standard messen lassen. Da helfen auch die Tränen nichts, die man dem jungen Mann sogar noch abnehmen möchte. Er wirkt dabei zwar so, als hätte er sich in einen Zug gesetzt, von dem er nicht mehr abspringen kann. Zeitgleich zieht er aber alle Register des modernen Profis, der Fußball-Ich-AG. Er tut das bis hin dazu, seinem zukünftigen Arbeitgeber loyaler gegenüberzustehen als dem Verein, für den er jetzt noch verpflichtet ist, das allerbeste zu tun und dem er sich einst als Spieler und Fan mit Leib und Seele verschrieben hatte. Ausgerechnet zu Gunsten der Bayern, dürfte dem Schalke-Fan entfahren…
Natürlich zählt Neuer bereits mit 25 zu den besten Torhütern der Welt, wenn er nicht schon der beste ist. Sein Gesamtpaket aus fast optimalen Anlagen in sämtlichen Bereichen des Torwartspiels gleicht einer Evolution. Die Verbindung seiner defensiv- und offensivstrategischen Möglichkeiten lassen einen Oliver Kahn als klassischen Reflextorhüter wie einen Dinosaurier erscheinen. Und Neuers Entwicklungspotenzial ist noch lange nicht ausgereizt. All das legt den Schluss nahe, dass so ein Spieler für sich beanspruchen muss, einen Verein zu wählen, der ihm weitestgehend garantiert, ständig auf höchstem Niveau spielen zu können. Und das kann Schalke 04 nicht. Es mag so sein, dass das Potenzial vorhanden ist, solches zu schaffen. Doch bislang hat sich der Traditionsverein vor allem in der Tradition geübt, Potenziale konsequent brach liegen zu lassen.
Der Schalker Fan hätte sich gewünscht, mit Neuer als Speerspitze in eine glorreiche Zukunft zu gehen. Kann man von einem Spieler verlangen, das nicht abwarten zu wollen, weil die ältere und jüngere Vergangenheit des Vereins diese Entwicklung nicht gerade wahrscheinlich macht? Nein. So sehr es die Schalker Seele kränken und quälen mag, der Wechsel zu einem europäischen Top-Verein ist dem Spieler rein sportlich gesehen nicht vorzuwerfen.
Das pseudoprofessionelle Schauspiel hätte Neuer hingegen besser sein gelassen. Er beraubt sich des Alleinstellungsmerkmals Authentizität. Denn selbst die schärfsten Gegner werden dem Ur-Schalker immer eines zugestanden haben: Glaubwürdigkeit in seiner Liebe zu seinem Verein. Ob sich dieser Imageschaden auszahlt, müssen der Berater und Neuer beantworten. Durch den Sündenfall des Manuel Neuer wird er am Ende nicht nur zum x-tausendsten Allerweltsprofi. Man kann zu den Ultras stehen, wie man will. Sie handeln in dieser Personalie vollkommen nachvollziehbar und richtig. Denn der Fußball verliert damit auch ein weiteres kleines Stück seiner einstigen Unschuld an den blanken Kommerz.