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nik1904

Manuel Neuer – Der Versuch einer realistischen und fachlich fundierten Einschätzung

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Manuel Neuer – Der Versuch einer realistischen und fachlich fundierten Einschätzung

Ich habe mir in den letzten Tagen entgegen aller Versuchung die Hand vor den Mund gehalten und die Finger von den Tasten gelassen. Ich ließ all das Gerede in welchen Medien, in welchem Forum und von welchem selbsternannten oder tatsächlichen Fachmann auch immer auf mich wirken. Getreu dem Motto "Don`t argue with an idiot, he drags you down on his level and people watching may not be able to see any difference.", hat man gegen niveaulose oder einfach unwissende Kommentierungen selbst mit den besten Argumenten nichts auszurichten. Und vor dem Hintergrund meines Nicks, der wenn auch andernorts nicht gleichlautend, so doch vereinsbezogen genug ist, wollte ich zunächst alles zwei bis drei Mal sehen, bevor ich mich äußere.

Beiträge in anderen Foren wie Kicker, westline, sport1 oder spox sind eh höchst selten ein Gradmesser. Womöglich als Meinungsquerschnitt, nicht aber für fachlich fundierte Expertisen. Denn wer weiß dort schon, wie eine sinnvolle Analyse des Torwartspiels aussehen soll. Die Vereinsbrille ist bei den meisten festgeschweißt so wie die immerwährenden Wahrheiten wie z.B. dass Oliver Kahn der ultimative und für ewig unerreichbare Torwart sei.

Die Begrifflichkeiten, die verwendet werden, sind überaus deutungsarm. „Weltklasse“ ist einer davon. Doch was ist „Weltklasse“? Ist es eine Parade, die – so unglaublich sie auch scheinen mag – letztlich ein Landesligakeeper vollbringen kann, wenn er den richtigen Absprung erwischt und die Situation perfekt antizipiert? Ist eine ganze Ansammlung von Kunstflugeinlagen, die ein kompletter Torwart in der Einzelfallanalyse gar nicht nötig gehabt hätte? Ist es ein nahezu perfektes Verhalten im 1gegen1, weil es schwieriger ist, als das allgemein angenommen wird? Oder liegt darin nicht eher das Resultat einer langen Entwicklung, die ein Torhüter durchlaufen muss?

Zwei negative Kommentare aus Foren seien als Diskussionsanfang in den Raum gestellt. Der erste stammt von einem User im BvB-Forum bei westline: "Total überschätzt das Milchgesicht. Ich habe nur eine Weltklasseparade von dem einzigen Weltklassekeeper auf dem Platz gesehen und zwar von Weidenfeller. Der Neuer ließ sich nur anschießen und soll der Held sein." Der zweite wurde in sport1 geschrieben: „Neuer wird nie so gut wie Kahn. Kraft auch nicht, aber Kraft wird besser als Neuer. Wozu braucht Bayern Neuer.“

Zunächst müssen wir uns bewusst werden, wie viele Menschen überhaupt eine inhaltlich sinnvolle Analyse abgeben können:

Wie viele Zuschauer oder Medienvertreter – und seien sie noch so anerkannte Kommentatoren – verstehen Fußball in seiner Komplexität? Wer von den Millionen Zuschauern im Stadion oder vor dem TV (viele sogar trotz langjähriger aktiver Zeit) versteht Fußball intellektuell und strategisch? Wer ist auch nur ein bisschen in der Lage, die Dinge zu bewerten, indem er oder sie den Teil des Gehirns gebraucht, in dem nicht das jeweilige Vereinswappen eingebrannt ist? Wie viele von denen sind oder waren selber Torhüter? Und wie wenige von denen beschäftigen sich auch noch in einer Weise mit der Materie, die dazu führen könnte, sinnvolle Bewertungen vorzunehmen? Das Ergebnis: Ja, genau, ziemlich ernüchternd. Entsprechend bescheiden ist das Niveau, wenn es in Foren, Zeitungen, ja selbst in Fachmedien um das Thema Torhüter geht.

Ich lege an mich selbst nicht den Maßstab an, dass das Folgende die ultimative Wahrheit zu sein hat. Dennoch wage ich eine sachlich-fachliche Analyse:


Ich war beim Spiel BvB gegen Schalke im Stadion und habe mir die Szenen nun auch via TV mehrfach angesehen. Zunächst sollte erwähnt werden, dass in diesem Spiel zwei außergewöhnliche Leistungen von Torhütern zu beobachten waren. So muss man Weidenfeller durchaus auch lobend erwähnen, denn er hatte so unfassbar wenig zu tun, war aber dennoch genau in der Sekunde voll da, als er gebraucht wurde. Auch das macht einen Klassekeeper aus. Ob man nun so weit gehen sollte wie Jürgen Klopp, die Leistung von Weidenfeller aufgrund dieser Aktion als stärker einzuordnen als die von Neuer, sei mal dahingestellt. Aber geht das Ding von Jurado rein... Im Prinzip hat er Dortmund nicht weniger den Sieg gerettet als Neuer. Zumindest in qualitativer Hinsicht. Ohne das unfassbar gute Spiel der Dortmunder und diese Leistung ihres Torwarts zu würdigen, müsste dieser Beitrag bereits als tendentiös abgeurteilt werden.

Zurück zu Neuer und damit den eingangs erwähnten Foreneintrag widerlegend: Er stand im Weg, weil es ein sehr, sehr guter Torwart nun mal so macht, dass der Stürmer keine andere Chance hat, als vorbeizuschießen oder den Torwart anzuschießen. Und gerade das ist so unfassbar schwer, so simpel es auch aussehen mag. Nun wird kaum einer behaupten wollen, dass Dortmund alles aus den Chancen gemacht hat, denn im 1gegen1 kann ein Torwart alles richtig machen und wird trotzdem in 80 % aller Fälle den Kürzeren ziehen – wenn der Gegenspieler die Situation perfekt löst. Hier kam "Kuba" in zwei Situationen tatsächlich nicht an Neuer vorbei, weil dieser alles richtig gemacht hat. Seine einzige Chance wäre gewesen, jeweils nach außen an Neuer vorbeizuziehen, was zumindest einen Abschluss unmöglich gemacht hätte. Als Mario Götze den Ball aus kurzer Distanz Neuer fast auf den Mann schießt, ist das eine Situation, in der der Torwart gar keine Abwehrchance haben darf. Als Götze jedoch an den Pfosten schießt, wird allgemein unterschlagen, dass er nur deshalb in die Bredouille kommt, sich erstmal um die eigene Achse drehen zu müssen, weil Neuer ihm den Ball zunächst vom Fuß nimmt – also ein „erzwungener“ Pfostenschuss.

Es ist der Moment gekommen, sich mit der wohl (zweit-) spektakulärsten Szene auseinanderzusetzen, in der Neuer weit aus dem Tor kommt, den Schuss von Lewandowski abwehrt, zurückläuft und den Versuch des Lupfers abfängt. Spricht gegen eine kritische Ansicht nicht das blanke Resultat nach dem Motto: „Geklärt = alles richtig gemacht.“ Nein, zumindest nicht, wenn die Analyse aufgrund einer fachlichen, nennen wir es torwartwissenschaftlichen, Basis stattfindet. Ein solches Vorgehen wäre allenfalls dann korrekt gewesen, wenn zwei Stürmer durchgebrochen wären und sich aus dem aggressiven und frühzeitigen Unterdrucksetzen des Gegners eine signifikante Verbesserung der Chancen angesichts einer aussichtslosen 1gegen2-Situation ergeben hätte. Das war hier nicht der Fall bzw. war nicht abzusehen. Also und trotz des - nahezu - perfekten Spiels, das um ein Haar sogar noch mit einem sensationell unverdienten Sieg garniert worden wäre: Torwartfehler, wenn auch mit einer spektakulären und erfolgreichen Torverhinderung.

Was stellen wir in einer sachlichen Analyse mit dem Hype an, der derzeit um Neuer gemacht wird? Was davon ist richtig, was ist übertrieben? Wir sehen: Ohne Differenzierung kommen wir keinen Schritt weiter, weil es ungemein schwierig ist, Torhüter in ihrem Können und ihrem individuellen Wert für eine Mannschaft zu vergleichen. Ich teile das Torwartspiel wie eine Fußballmannschaft in 11 Positionen bzw. Dimensionen auf:

Dimension 1: Körperliche Attribute (Größe, Fitness, Gewicht, physische Belastbarkeit, Verletzungsanfälligkeit)

Dimension 2: Schnelligkeit

Dimension 3: Beweglichkeit

Dimension 4: Reaktionen, Reflexe

Dimension 5: Torwarttechnische Grundlagen (flache Bälle auf den Mann, Tauchen, Hechten, etc.)

Dimension 6: Anwendung der Techniken im Spiel (Verhalten auf der Linie, Verhalten im 1gegen1, hohe Bälle)

Dimension 7: Fußballerische Fähigkeiten, Abwürfe, Abschläge, Abstöße

Dimension 8: Defensivstrategische Fähigkeiten (Handlungsschnelligkeit, Stellungsspiel, Mitspielen, Kommunikation, Antizipation, Strafraumbeherrschung)

Dimension 9: Offensivstrategische Fähigkeiten (Handlungsschnelligkeit, Spieleröffnung, Spielübersicht, Passgenauigkeit, Abwurfgenauigkeit)

Dimension 10: Fehlerfreiheit

Dimension 11: Ausstrahlung, Erfahrung, psychische Belastbarkeit, Wert für die Mannschaft

Torhüter wie Kahn, Köpke oder aktuell Weidenfeller und Wiese sind typische Beispiele, dass Torhüter, die bei weitem nicht alle Kriterien erfüllen, zum Mannschaftserfolg extrem große Beiträge leisten können. Kahn wurde sogar Welttorhüter und erlangte zu Recht Legendenstatus, obwohl er wie die anderen aktuellen Beispiele nur begrenzt „mehrdimensionaler“ Torhüter war. Zweifelsohne erfüllt Neuer noch lange nicht alle elf Ansprüche. Wie soll er auch mit nur 24 Jahren. Er wird womöglich nie alle elf Kriterien auf höchstem Niveau erfüllen. Die beschriebene Situation aus dem Dortmund-Spiel kennzeichnet z.B. eines seiner größten Entwicklungspotenziale oder – negativ ausgedrückt – seine größte Schwäche.

Denn er überdreht ab und an, wenn es besonders gut läuft oder wenn er sich gezwungen sieht, Schwächen der Vorderleute durch beinahe aktionistisches Handeln auszugleichen. Ihm fehlt in der Strafraumbeherrschung noch zu oft das Timing. Er hat oft, aber nicht immer Lösungen parat, wenn er darauf reagieren muss, dass der Gegner (im Wissen um seine Stärken im Strafraum) bewusst seinen Laufweg zum Ball zustellt. Natürlich ist das den Regeln nach in vier von fünf Fällen Foul und so relativiert sich der Unfug, der in Aussagen wie „Wenn er rauskommt, muss er ihn haben“ steckt. Doch so was wird selten gepfiffen und dann muss ein Spitzentorwart sich darauf einstellen. Seine Handballtorwarttechnik mag das Zeug dazu haben, revolutionär zu sein. Doch dann muss dieser junge Keeper begreifen, dass nicht annähernd so viele Situationen zu dieser Technik Anlass geben, wie er sie anwendet.

Wer diese elf Punkte abarbeitet und realistisch auf Neuer bezieht, der wird um die Feststellung nicht herum kommen, dass er sogar jetzt schon rein quantitativ in mehr Bereichen eine beachtliche Qualität verkörpert, als das bei Oliver Kahn jemals der Fall war. Beispiele: Manuel Neuer hat fußballerisch und in der Spieleröffnung Möglichkeiten, die Kahn nahezu vollkommen abgingen. Er ist im Strafraum erheblich mutiger. Er ist zudem schneller. Im 1gegen1 ist er wohl schon nahezu auf gleichem Niveau. Neuer ist keineswegs auf dem Weg, der ultimative Torhüter zu werden – so wenig wie Kahn, van der Saar, Buffon, Casillas oder Czech es waren oder sind. Es gibt diesen Torhüter nicht, so sehr sich die Fans auch für ihre Lieblinge erwärmen.

Neuers Torwarttechnik ist an einigen Punkten unzureichend. So wird es Lehrvideos über seine Falltechnik ebenso wenig geben wie zu seinem Übergreifen auf der rechten Seite oder seiner (wenn auch mittlerweile seltener zu beobachtenden) „Bagger-Technik“ bei sehr scharfen Schüssen in die Ecken. Jeder Spitzentorhüter lebt davon, eine Umleitung für individuelle technische Schwächen zu finden oder an der perfekten Problemlösungsstrategie zu arbeiten. Das Stichwort heißt: Effektivität.

Neuers ist schon heute und mit nur 24 Jahren beeindruckend effektiv. Er ist in der Lage, Spiele mit einer einzigen Aktion (Türkei) oder einer Ansammlung von spektakulären Paraden mit zu entscheiden (z.B. FC Porto vor zwei Jahren oder Bayern und BvB in der laufenden Saison). Er kann Spiele durch seine offensivstrategische Ausrichtung und seine fußballerischen Fähigkeiten gestalten und Tore bewusst vorbereiten. Neuer verfügt über eine für einen Torwart beeindruckende Schnelligkeit – nicht nur auf den ersten Metern, sondern auch auf 20 bis 25 Metern. Warum ich oben schrieb, es habe sich beim Herauslaufen um die zweitspektakulärste Szene gehandelt?

Nun, für mich war die beste Aktion von Neuer eine gänzlich unbeachtete: Einwurf für Dortmund. Neuer legt blitzschnell sieben, acht Meter vom Fünfer zur „16er-Linie“ zurück und fängt dort den Einwurf ab, obwohl dieser relativ kurz zu einem Dortmunder auf Kopfhöhe geworfen war. Ich empfehle jedem Torwart, sich diese Szene irgendwoher zu besorgen. Ich habe schon wahrlich viele Spiele via TV oder im Stadion gesehen – diese Szene war einmalig und gleichfalls Beleg für die außergewöhnlichen Fähigkeiten von Neuer, ein Spiel zu lesen und zu antizipieren. So ein Torwart, der dann auch noch über die nötige Spielintelligenz und die technischen Fähigkeiten in der Spieleröffnung verfügt, ist ganz logisch in der Lage, das Offensivspiel seiner Mannschaft extrem positiv zu beeinflussen. Nämlich dann, wenn die Mitspieler auf diesen Torwart eingestellt sind bzw. perfekt mit ihm harmonieren.

Es mag nicht jedem gefallen, doch trotz aller Lobeshymnen von Klopp auf Weidenfeller darf man annehmen, dass er – wenn schon nicht Neuer selbst, so doch – einen Torwarttypus wie Neuer mit Kusshand nehmen würde. Lediglich die Faktoren Erfahrung und Einfluss auf die extrem junge Mannschaft stehen der Feststellung entgegen, dass ein Typ wie Neuer in einer Mannschaft, die derart rasanten Offensivfußball bietet, defensiv, aber vor allem auch offensiv ein noch erheblich effektiverer Bestandteil sein würde. Gleiches gilt für Bremen und Wiese, ja selbst für Leverkusen und Adler.

Dieser muss sich nicht hinter Neuer verstecken, doch Neuer vermittelt den Eindruck, in seiner Entwicklung mit ein oder zwei km/h schneller voran zu kommen. Das ist logisch, denn der talentiertere Sportler wird sich bei entsprechender Anleitung, bei ausreichenden körperlichen Voraussetzungen und mit dem nötigen Ehrgeiz in seiner Entwicklung leichter tun. Und dass Neuer theoretisch (!) das größere Potenzial hat, wurde selbst in Leverkusen zugestanden, als beide noch Junioren waren. Das sagt nicht, dass Neuer zwangsläufig der bessere Torwart ist bzw. werden wird. Nein, von dieser Feststellung sind wir noch drei, vier Jahre entfernt – mindestens! Doch es scheint status quo so zu sein, dass er sich seinem in der Gesamtheit der Anforderungen größeren Potenzial entsprechend schneller entwickelt und das größere Leistungsvermögen erreicht.

Noch ein Vergleich, der neben den offensivstrategischen Merkmalen gegenüber den aktuellen Konkurrenten, aber auch gegenüber dem öffentlich wahrgenommenen „historischen“ Superlativ zu Neuers Gunsten ausfällt: Kahn griff erst nach der EM `96 und mit 27 Jahren in einen wirklichen Wettstreit um die Nr. 1 im deutschen Tor ein und hatte diese Position erst nach der WM `98 mit immerhin schon 29 inne. Neuer ist mit 24 Jahren mit der Erfahrung einer WM ausgestattet, die für ihn sicherlich nicht perfekt verlief, aber für einen Novizen immerhin noch gut. Seine sportliche Entwicklung wie die als Persönlichkeit auf dem Platz wäre in dieser Rasanz ohne die Weltmeisterschaft gar nicht denkbar.

Neuer ist diesbezüglich deutlich weiter als Kahn im vergleichbaren Alter. Weitergehend musste Kahn damit klarkommen, dass er in einer N11 spielte, die nie als ernsthafter Kandidat für einen Titel gelten konnte – und musste seinen schlimmsten Moment erleben, als der WM-Titel basierend auf seinen fantastischen Leistungen doch einmal in Reichweite kam. Von der Heim-WM ganz zu schweigen. Fast schon tragisch für einen solchen Torwart!

Neuer kann – wenn er unverletzt bleibt und sich ideal weiterentwickelt – Bestandteil von deutschen Nationalmannschaften sein, die wieder ernsthaft um Titel mitspielen. Keine Garantie, noch nicht einmal mehr als blanke Hypothese und dazu noch reine Gnade der späten Geburt – doch Neuer startet für EM- und WM-Titel mit der besseren Perspektive.

Was spricht noch für Neuer? Setzen wir voraus, dass ein Grund dafür, warum bei Torhütern erst wesentlich später als bei Feldspielern die höchste Leistungsfähigkeit erreicht wird, in der Überwindung der Sturm-und Drangzeit zu finden ist. Dann führt dieses zwangsläufig zur Feststellung, dass Neuer die Ziele Konstanz, Fehlerfreiheit und Erfahrung noch erreichen wird.

Erfolge kann er natürlich nur im entsprechenden Mannschaftsumfeld erreichen und dieses ist auf Schalke schwieriger als bei einem europäischen Topverein; wenn nicht gar unmöglich. Neuer hat sein derzeitiges Niveau auf Schalke erreicht und er wird sich als Torwart dort nicht schlechter weiterentwickeln als anderswo. Das würde nichts an seiner N11-Perspektive ändern. Doch dieses Image des „Titans“ ist untrennbar mit Meisterschaften, legendären Champions-League-Schlachten und in den Himmel strebenden Trophäen verbunden, die von Torwarthandschuhen gehalten werden.

Um in diese Sphären vorzudringen, muss Manuel Neuer den FC Schalke spätestens im Alter von 27 oder 28 Jahren verlassen. Dann kann er dauerhaft beweisen, dass er nicht nur in der Bundesliga, sondern auf allerhöchstem Niveau genau dann in der Lage ist, beinahe Unvorstellbares zu leisten, wenn es darauf ankommt. Neuer darf jetzt schon als einer der drei oder maximal fünf besten Torhüter der Welt gelten. Den absoluten Zenit, sprich bester Torhüter der Welt sein, kann Neuer hinsichtlich seines Potenzials erreichen. Allerdings erst, wenn er jahrelang auf diesem Niveau spielt. Das ist die Crux an der Geschichte. Ich halte Neuer für den Torwart mit dem größten Potenzial, das er hinlänglich unter Beweis gestellt hat. Potenzial ist im Fußball allerdings erstmal gar nichts wert, wenn es nicht (aus welchen Gründen auch immer) in langfristige Leistung umgesetzt werden kann. Frag nach bei Deisler, Scholl, Thon…

Für Neuer spricht des Weiteren: Er verarbeitet Fehler sehr schnell – meist merkt man ihm schon im weiteren Spielverlauf nichts mehr an. Seine schwächeren Phasen scheinen nicht nur seltener, sondern auch kürzer zu werden. Er ist in einer sehr positiven Persönlichkeitsentwicklung. Auf dem Platz verbreitet er teilweise bereits in diesem jungen Torwartalter eine unbeschreibbare Aura, die nur ganz wenige Torhüter hatten und haben. Seine Zukunft und die des Vereins, die Berichterstattung über Kraft und Bayern, der Hype, der veranstaltet wird etc.pp. belasten ihn zwangsläufig. Und dennoch ist seine Leistung von kleinen Luftlöchern abgesehen auf einem relativ zu seinem Alter konstant hohen Niveau. Nicht konstant genug, um ihn bereits als "Weltklasse" zu bezeichnen, aber konstant genug, um bei einem 24jährigen von einer außergewöhnlichen Perspektive zu sprechen.

Das spricht eher dafür, dass Neuer seinen Weg konstant und konsequent weitergeht, denn für Stagnation oder Rückschritt. Sicher ist das nicht, die Falltiefe nimmt schließlich zu, je weiter Manuel Neuer in Richtung Torwartolymp emporsteigt – wo er allerdings lange noch nicht angekommen ist! Es ist nicht gesagt, dass Rene Adler oder ein Jüngerer durch eine Leistungsexplosion oder eine ähnliche Entwicklung wie bei Neuer nicht doch an diesem vorbeiziehen, wenn Neuer auch nur ein bisschen von seinem Weg abweicht.

Man kann die Problematik anhand eines anderen jungen Torwarts gut erklären: Thomas Kraft hat noch nicht einmal 1.000 Pflichtspielminuten auf dem Buckel. Und er soll trotz all der Klippen, die auf seinem Weg zu umschiffen sind, bereits jetzt bei Bayern Garant dafür sein, deren Ansprüche auf Titel zu untermauern? Wenn man es nüchtern analysiert, scheint (!) er zumindest fußballerisch, in der Spieleröffnung und im 1gegen1 nicht so stark bzw. entwicklungsfähig zu sein wie Neuer. Bereits hier entstehen also schon erste Zweifel. Ob die begründet sind, wird sich weisen, wenn Kraft in seiner Entwicklung besser zu beurteilen ist.

Jeder richtig gute Torhüter muss auf durch Stahlbäder der Torwartfehler, der Selbstzweifel und der öffentlichen Geißelung gehen. Neben den immensen Anforderungen, die bereits in den elf Dimensionen enthalten sind, wird ein Torwart nur so die nötige Härte bekommen, um dauerhaft „Weltklasse“ zu verkörpern. Es geht hier nicht darum, Krafts Potenzial in Frage zu stellen, sondern aufzuzeigen, wie weit Neuer im Vergleich schon ist und wie viele Stufen er schon genommen hat, die auch ein Thomas Kraft noch mühsam hinaufkraxeln muss. Kraft, Zieler und andere müssen erstmal zeigen, ob sie im Langzeittest dafür gerüstet sind, ihr theoretisches und individuelles Topniveau zu erreichen. Und dann erst stellt sich die Frage, ob dieses Niveau an das heranreicht, was Neuer jetzt schon darstellt, geschweige denn, wohin er noch kommen kann.

Das Zauberwort bei jungen Torhütern heißt Geduld, Geduld und noch mal Geduld. Denn es wird derzeit und inflationär ein neues Jahrhunderttalent nach dem anderen inthronisiert. Die steile Serpentinenstraße hinauf zum Top-Torhüter auf Weltniveau endet für die meisten schon an der ersten oder zweiten Kurve. Und auch danach warten noch ausreichend Gelegenheiten zu scheitern. Neuer ist auf diesem Weg zum Gipfel schon recht weit vorangekommen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Oliver Kahn sagte einmal: Die Zeit der großen Torhüter und der unumstrittenen Nr.1 im deutschen Tor sei vorbei. Es werde keine Ära mehr geben. Die Entwicklung von Neuer erweckt den Anschein, dass er sich diesbezüglich getäuscht haben könnte. Denn am Ende kommt man bei einer nüchternen Betrachtung um eine Aussage nicht herum, die Christoph Metzelder tätigte: Neuer sei erst 24 und Torhüter erst mit 30 auf dem Höhepunkt der Entwicklung. Was werde Neuer dann erst für ein Torwart sein…

Alles unter Vorbehalt! Nicht immer, aber viel zu oft, kommt alles anders als man denkt. Unabhängig von jeglicher Vereinsaffinität oder -antipathie: So weit wir uns als Anhänger der N11 bezeichnen, wäre wünschenswert, dass Neuer seinen Weg so weiter geht.

Aktualisiert: 09.02.2011 um 15:50 von nik1904

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Kommentare

  1. Avatar von Believer
    Klasse Blog, nik. Der verdient Beifall und sollte von jedem (!) Fußballfreund, -fanatiker, -möchtegern-, oder-doch-analysten, Torwarttrainer und Meinungsbildner gelesen werden.
    Denn das ist mal eine sachliche und nüchterne Herangehensweise, die der sensationsheischenden Presse, die momentan mit den Superlativen um sich wirft, entgegenschlägt.
  2. Avatar von Keeper12
    Schließe mich da Believer an. Super Blog! Sollte auf jeden Fall gelesen werden.
  3. Avatar von Stetti
    Ich kann mich da nur anschließen. Ein weiterer, toller Blog-Eintrag! Danke, dafür
  4. Avatar von nordseekeeper
    Ich dachte erst es kommt ein Blog mit der Vereinsbrille.
    Falsch gedacht!
    Super objektiver Beitrag, den es wirklich lohnt zu lesen. Eine sachliche Erläuterung!
    Danke für diesen niveauvollen Beitrag, von dem sich andere gerne was abschauen dürfen!
  5. Avatar von Schnapper82
    Nik, du sagst es genau so, wie es ist.
    Sollte Neuer Verletzungsfrei bleiben, dann wird er für die nächsten zehn Jahre in der N11 die Nr.1 sein.
    Die Zeiten der Einzelgänger im Tor sind vorbei. Nun braucht man Teamplayer, einen 11. Feldspieler und den gibt Neuer.
    Sicher ist noch nicht alles Gold, was glänzt und sicher ist der Hype extrem übertrieben, aber ich gehe mit deiner Analyse 100%ig konform!
  6. Avatar von nik1904
    Danke für die gute Kritik! Ich hatte ursprünglich einen noch ausführlicheren Beitrag verfasst, doch ich wurde vom System ausgebremst, das nur 15.000 Zeichen zulässt. Bei ursprünglich 21.000 Zeichen ist einiges weggefallen. Ich hoffe, die inhaltlichen Ecken sind nicht zu sehr ins Gewicht gefallen.

    Ich schicke die komplette Datei an Paulianer. Vielleicht kann er sie einstellen.
  7. Avatar von nik1904
    So, jetzt habe ich dank Pauli den ganzen Bericht einstellen können. Danke! Da ist nichts Sensationelles neu hinzu gekommen, aber nun ist er so, wie ich ihn ursprünglich hatte.
  8. Avatar von Paulianer
    Wow, viel Text. Lese ich mir mal am Wochenende durch