"Die Fehler der Stürmer vergisst man, die der Torwarte nie."
"Die Psychologie eines Torwarts ist immer eine gefährdete. Er muss seine Reflexe wider alle natürliche Reflexe einsetzen, er muss zwischen Beine springen, mit seinen Händen unter Stollen greifen. Ein Torwart ist immer dort, wo es weh tut. Und was das allerschlimmste ist, er muss zu warten verstehen.
Das Spiel ohne Ball ist für einen Torwart die schwerste Geduldprobe, er kämpft gegen ein Phantom, streckt sich in Gedanken, geht in Gedanken zu Boden, liest in Gedanken, was kommen mag. Und das Perverse: Er hofft, dass die Gegner vor sein Tor kommen, dass er sich beweisen kann. Er verhindert durch seine Organisation, durch das Anbrüllen seiner Abwehr, was er doch herbeisehnt: das Duell.
Ein Torwart nimmt alles persönlich, jeden Gegenspieler, den gegnerischen Torwart sogar, wenn er gut hält. Du machst kein Tor gegen mich. Ein Torwart liebt es, wenn ein Spieler allein auf ihn zukommt, am besten gleich drei, das ist seine Chance. Ein Torwart hat keine Angst, ein Torwart macht Angst, muss Angst machen. Am wenigsten Angst hat er vor dem Elfmeter, denn dort kann er nur gewinnen. Die größte Angst hat er nicht vor den Unhaltbaren, sondern vor den haltbaren Schüssen. Den Rollern, den Bällen, die nicht richtig getroffen werden, den Bällen aufs kurze Eck, aufs Torwarteck. Dort ist er verwundbar.
Er hasst die, die einfach nur draufhalten, mit dem Spitz. Es ist eine Beleidigung, eine Verletzung der Regeln, des Zweikampfs. Manchmal ist für einen Torwart Fußball wie Schach, man muss immer die Spielzüge und Bewegungen des Gegners antizipieren. Wenn er dumm ist, sieht man leicht selbst dumm aus.
Ein Torwart ist in einer permanenten Ausnahmesituation. Wird er ausgewchselt, nicht aufgestellt, ist es wie eine Vernichtung. Er weiß, er wird so schnell nicht wiederkommen. Jeder andere Spieler bekommt schneller wieder seine Cahnce. Ein Torwart ist immer spielentscheidend, und sei es durch die Abwesenheit seiner Fehler."
Der Autor, Albert Ostermaier, ist Dichter und Torwart. Die Passage wurde entnommen aus: "Kahns Irrealis", Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 29.Februar 2004, Feuilleton, Seite 27