Wie Profis, das mit den Bällen sehen: aus der Süddeutschen Zeitung

"Unhaltbare Flugobjekte
In der Bundesliga sind zurzeit acht verschiedene Bälle im Umlauf - sehr zum Leidwesen der Torhüter
Früher, als die Bundesligatorhüter noch keine Bundesligatorhüter, sondern kleine Jungs waren, da haben sie im Sommer natürlich auch die Bundesliga-Sonderhefte auswendig gelernt. Ein Tag nach Erscheinen hatten sie Namen und Geburtsdaten aller Profis intus, nach einem weiteren Tag waren sie textsicher bei Größe und Gewicht, und die ganz Akribischen konnten am Ende blind hersagen, wer beim Mannschaftsfoto von Hannover 96 in der mittleren Reihe als zweiter von links steht. Nun könnte man meinen, dass einen dieser Sinn fürs Detail in jenem Moment verlässt, da man selbst zum ersten Mal als Profi auf einem Mannschaftsfoto auftaucht. Sofern es sich bei dem Profi aber um einen Torhüter handelt, ist dieser Eindruck falsch - Torhüter müssen heute mehr pauken als je zuvor. "Der SV Wehen wird von Nike ausgerüstet", sagt Raphael Schäfer, Torhüter des VfB Stuttgart. "Rot-Weiß Ahlen spielt mit Bällen von Jako", sagt Robert Enke, Torhüter von Hannover 96.
Es ist nicht leicht, ein Torwart zu sein. Der Torwart darf die Hände zu Hilfe nehmen, das schon, aber für diesen Wettbewerbsvorteil hat er längst üppig gebüßt. Als erstes wurde er ungefragt für verrückt erklärt (zusammen mit seinem Kumpel, dem Linksaußen); als nächstes haben sie ihm verboten, Rückpässe anzufassen; und inzwischen schießen sie ihm Bälle aufs Tor, die sich einen Spaß daraus machen, links anzutäuschen und rechts einzuschlagen. "Ich glaube, Torwart war selten so ein schwerer Job wie heute", sagt Schäfer. Der frischeste Beleg für seine These ist er selbst: Beim Ligapokal-Spiel gegen den FC Bayern war ein von Franck Ribéry abgefeuerter Ball plötzlich aus dem Himmel gefallen, und vom Himmel fiel der Ball direkt in den Torwinkel. Anderntags druckten die Zeitungen Bilder von einem Schäfer, der hilflos mit den Armen fuchtelt, und es fand sich kein Artikel, in dem das Wort "Torwartfehler" fehlte. "Für mich war der Ball unhaltbar", sagt Schäfer, "das heißt, ich hätte ihn schon halten können - wenn ich in dem Moment losspringe, als der Ball fünf Meter über der Latte ist." Aber kein Torwart springt, wenn er sicher ist, dass der Ball drüber geht - mit diesem vernünftigen Ansatz kann man heute aber leicht zum Spielverderber werden. "Vielleicht müsste man künftig bei Fernschüssen grob abschätzen, wo der Ball hingehen könnte und sicherheitshalber schon mal losspringen", sagt Schäfer. Er meint das nicht ganz ernst, weil es bei den heutigen Bällen genauso passieren könnte, dass man rechtzeitig nach links springt, worauf der Ball es sich einen Meter vor der Torlinie anders überlegt und höhnisch zur Mitte abbiegt.
Für Schützen wie Ribéry ist der Adidas-Ball eine wahre Pracht, unter Keepern gilt er als eine der letzten Herausforderungen dieser Erde. Das Problem ist nur, dass es nicht reicht, die Flugeigenschaften dieses Modells auswendig zu lernen: In der Bundesliga sind acht verschiedene Bälle im Umlauf. Jede Heimelf bringt die im Ausrüstervertrag vorgesehenen eigenen Bälle aufs Feld, weshalb neben Adidas auch Produkte von Nike, Puma, Diadora, Uhlsport, Derbystar, Jako und Molten durch die Strafräume fliegen. "Vor Auswärtsspielen fangen wir deshalb schon montags an, mit dem Ball des nächsten Gegners zu trainieren", sagt Robert Enke. Deshalb weiß er jetzt auch, welche Bälle der Regionalligist Ahlen benutzt, am Samstag Hannovers Gegner in der ersten Pokalrunde; deshalb weiß auch Schäfer, dass der Zweitliga-Aufsteiger Wehen mit Nike schießt. "Unser Zeugwart hat Nike-Bälle zum Training mitgebracht, also wird Wehen wohl mit denen spielen." Unter den Zeugwarten der Liga hat sich eine spezielle Logistik verselbständigt: Vor Heimspielen schicken sie dem nächsten Gegner einen Sack eigener Bälle zu; vor Auswärtsspielen nehmen sie einen Sack zugeschickter Fremdbälle in Empfang. "Für uns Keeper ist das wie Hausaufgaben machen", sagt Raphael Schäfer, "jeder Ball fliegt anders, wir müssen uns vor jedem Spiel wieder neu einstellen."
Wird also ein Adidas-Modell auf den Rasen gerollt, rechnen die Keeper mit einem rasanten Flugobjekt, das etwas leichter wirkt als konkurrierende Modelle und im Zweifel besser gefaustet als gefangen werden sollte; kommt ein Nike-Ball in die Arena, stellen sich die Torhüter auf einen etwas schwereren Ball ein, der relativ hoch springt; der Puma-Ball steigt gerne mal nach oben; der Jako-Ball fliegt auch schnell, fällt aber früher runter als der Adidas-Ball; und das Modell von Diadora "flattert fast gar nicht", wie Robert Enke lobend amerkt. Aber er muss das wahrscheinlich sagen, er spielt ja bei einem Diadora-Klub.

Am besten mit Helmkamera

Ein wenig fühlen sich die Keeper schon als Opfer eines industriellen Wettrüstens, das immer schnellere, immer tollere Bälle auf den Markt wirft. Aber sie haben es aufgegeben, sich hinterher für etwas zu rechtfertigen, was Nicht-Torhüter nicht verstehen. "Wenn wir den Ball als Erklärung anführen, dann wird das doch nur als Ausrede verstanden", sagt Enke, der lieber amüsiert schweigt, wenn ihm ein Reporter vorwirft, er habe zu weit vor dem Tor gestanden. "Zu weit vor dem Tor, das ist der Klassiker", sagt Enke, und auch Schäfer hat sich mit der Problematik der unterschiedlichen Wahrnehmungen längst abgefunden. "Manchmal kann ein Zuschauer die Flugbahn des Balles einfach nicht beurteilen", sagt er, "oft gibt ja nicht mal die Hintertor-Perspektive im Fernsehen ein klares Bild. Eigentlich müsste der Torwart eine Helmkamera tragen, damit man begreift, wie der Ball geflogen kam."
Zwei Jahre noch, dann könnte das Leben wieder angenehmer werden für die Torhüter im Land. Am Mittwoch tagt die DFL-Generalversammlung - sie soll die Einführung eines Einheitsballs ab Sommer 2009 beschließen."

Quelle: Süddeutsche Zeitung 04. August 2007