TIMO HILDEBRAND scheint mit dem psychischen Druck, der auf Torhütern lastet, gut umgehen zu können: 2003 blieb er in der Bundesliga 884 Minuten ohne Gegentor, so lange wie kein anderer Keeper vor ihm. In seiner ganzen Karriere ist er erst einmal des Feldes verwiesen worden - in der Jugend des FV Hofheim.
Damit ist Hildebrand die ruhige Ausnahme unter deutschen Spitzenkeepern, die traditionell eher durch Schrulligkeit oder Aggressivität auffallen.
OLIVER KAHN hat erst am vergangenen Spieltag versucht, Bremens Miroslav Klose in der Nase zu bohren, und damit die Liste seiner Strafraumrüpeleien weiter verlängert: 1999, gegen Dortmund, hatte er bereits Stéphane Chapuisat mit einem Karatetritt bedacht und Heiko Herrlich in die Wange zu beißen versucht. 2001 faustete er im gegnerischen Strafraum den Ball ins Tor. 2002 ging er Thomas Brdaric, damals Leverkusen, an den Hals. (Zu Kahns Entlastung könnte vorgebracht werden, dass er jahrelang mit Bananen beworfen worden war.) Wenig besser Kahns Rivale JENS LEHMANN, der mal Gegenspielern an den Haaren zieht (1999), mal in die Nase kneift (2002).
Schon HARALD SCHUMACHER hatte bei der WM 1982 den Franzosen Battiston absichtlich schwer verletzt. ULI STEIN tat sich 1987 dadurch hervor, eine Ohrfeige für einen Gegner als »Resultat einer Drehbewegung« zu beschreiben. Gelegentlich lehnte er sich demonstrativ an den Pfosten oder ließ Schüsse der Gegner passieren, um die eigene Abwehr für miese Leistungen zu bestrafen. Und SEPP MAIER, als Aktiver noch humorvoll, nahm als Bundestorwarttrainer immer wieder so verbissen Partei für Kahn, dass er voriges Wochenende entlassen wurde.
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DIE ZEIT: Herr Hildebrand, es heißt, spätestens nach der WM 2006 werden Sie deutscher Nationaltorwart und Oliver Kahn beim FC Bayern beerben. Muss man sich sorgen, dass Sie, wie so viele Spitzentorhüter, dann etwas seltsam werden?
Timo Hildebrand: Ich hoffe nicht.
ZEIT: Lassen Sie uns kurz und schamlos prüfen, wie sehr der Stress Sie schon verändert hat.
Hildebrand: Okay, eines gebe ich vorab zu: Ich muss am Spieltag oft aufs Klo. In der Bundesliga hat sich das gelegt, im Europapokal noch nicht…
ZEIT: Schon die obligatorische Ausgleichskarriere als Golfer begonnen?
Hildebrand: Ich habe mal angefangen, Platzreife gemacht, noch zweimal gespielt und mit Handicap 45 wieder aufgehört, so schlecht war ich.
ZEIT: Zermalmte Zähne?
Hildebrand: Ich knirsche nachts, ja. Besonders schlimm war es letzte Saison, als wir ganz oben waren und Champions League gespielt haben.
ZEIT: Je bei einem Wutanfall selbst verletzt?
Hildebrand: Bisschen die Hand verstaucht, als ich mal gegen den Pfosten geboxt habe. Die peinlichste Verletzung überhaupt, muss man verschweigen.
ZEIT: Wie vielen Spielern an die Gurgel gegangen?
Hildebrand: Keinem. Wenn Sie auf Oliver Kahn anspielen: Ich glaube nicht, dass ich der Typ bin, so mit Kollegen umzugehen. Ich möchte keiner werden, der anderen an die Gurgel geht. Die Situation mit Klose war überzogen von ihm. Man geht einem Kollegen nicht an die Nase – auch und erst recht keinem Kumpel aus der Nationalelf.
ZEIT: Ist auf der Länderspielreise in Iran viel darüber geredet worden?
Hildebrand: Klar. Wir haben Miroslav damit aufgezogen, dass er sich nicht gewehrt hat.
ZEIT: Demnach ist Klose in der maskulinen Fußballwelt eher Memme als Opfer?
Hildebrand: Ganz und gar nicht, totales Missverständnis! Die meisten denken, dass Oliver Kahn in dieser Situation viele Sympathien verloren hat.
ZEIT: In diesem Zusammenhang: Der lustigste Torwartwitz, den Sie kennen?
Hildebrand: Ich kenne keinen. Sie?
ZEIT: Den Klassiker: Eine Mutter hatte drei Söhne. Der erste war Torwart, der zweite Linksaußen, und der dritte war auch nicht normal. Lustig?
Hildebrand: Nicht wirklich. Jetzt, da Oliver Kahn mal wieder ausgerastet ist, heißt es reflexartig, alle Torhüter hätten eine Macke. Ich versuche aber, diese Macken von mir fern zu halten.
ZEIT: Reden wir darüber, wie schwierig das ist. Warum also ist ausgerechnet der Job zwischen den Pfosten der stressigste auf dem Platz?
Hildebrand: Weil man dort keinen Fehler machen darf. Wenn ich im Tor etwas falsch mache, hat das sofort Konsequenzen, und jeder kriegt’s mit. Wenn das Spiel zu mir kommt, dann nur als Gefahr. Das Glück findet immer in der anderen Spielhälfte statt. In gewisser Weise bin ich als Torwart dem Trainer ähnlicher als meinen Mannschaftskameraden: Beide müssen wir dem Spiel zusehen, brüllen rum und können uns die Anspannung nicht aus dem Körper laufen. Wenigstens habe ich den Vorteil, dass ich in letzter Konsequenz doch noch Fehler meiner Vorderleute ausbügeln kann.
ZEIT: Haben Sie Die Angst des Tormanns beim Elfmeter von Handke gelesen?
Hildebrand: Noch nicht. Ich finde aber, beim Elfmeter muss nur der Schütze Angst haben. Das ist eine Situation, in der ich nur gewinnen kann.
ZEIT: In Handkes Buch ist der Protagonist ein ehemaliger Torwart, der gleich zu Beginn der Handlung zum Mörder wird…
Hildebrand: …na, super…
ZEIT: …und der am Ende des Buches einem Fußballspiel zuschaut, bei dem er einem Zuschauer das Dilemma jedes Torhüters erklärt: dass der eigentlich nie beachtet wird – erst dann, wenn der Stürmer geschossen hat und er entweder pariert oder daneben greift. Das mache ihn in der Wahrnehmung aller zur Extremfigur.
Hildebrand: Genau so ist es! Glück oder Unglück in jeder Aktion, dazwischen gibt’s nichts. Es geht mir in meiner Wahrnehmung übrigens selbst so: Wenn meine Mannschaft den Ball hat, schaue ich auch nur auf meine Mitspieler – den gegnerischen Torwart sehe ich erst bei der Parade. Und der ist dann entweder Held oder Depp. Wobei: Held? Es gibt keine Helden im Fußball.
ZEIT: Aber einen Nimbus, den Sie durch einige Fehlgriffe verlieren könnten?
Hildebrand: Den schon. Zu meinem Glück weiß ich aber nicht, wie schnell das passieren würde.
ZEIT: Wie wichtig war Ihnen in dem Zusammenhang Ihr Torlosigkeitsrekord im vorigen Jahr?
Hildebrand: Der hat mich extrem hochgepuscht, muss ich zugeben.
ZEIT: Ab wann haben Sie die Minuten mitgezählt?
Hildebrand: Als ich in den Bereich kam, Oliver Kahns Rekord wirklich knacken zu können. Da dachte ich: Jetzt noch drei Spiele, jetzt noch zwei, noch eins… Je extremer die Öffentlichkeit das diskutiert hat, desto mehr hat es mich beeinflusst.
ZEIT: Wer hat Sie dann nach den mittlerweile berühmten 884 Minuten überwunden?
Hildebrand: Angelos Charisteas von Werder Bremen. Aber das Tor hätte nicht zählen dürfen. Der Ball war vorher aus.
ZEIT: Wurmt Sie also.
Hildebrand: Klar – weil der Ball aus war! Aber ein bisschen war ich auch froh, dass da ein Schnitt war. Ich habe damals gemerkt, wie von Spiel zu Spiel mehr Kameras auf mich gerichtet waren. Und wenn man das merkt, ist es schon schlecht.
ZEIT: Gibt es unter dieser Anspannung Tore, bei denen Sie sich nichts vorwerfen?
Hildebrand: Zum Glück ja.
ZEIT: Es gibt ihn also, den unhaltbaren Ball?
Hildebrand: Das hat nichts mit unhaltbar zu tun. Vielleicht war ein Angriff oder ein Schuss so gut, dass man einfach mal akzeptieren muss, dass ein Tor daraus geworden ist. Meiner Meinung nach reicht es, wenn der Torwart sein Spiel spielt und die Bälle hält, die er halten kann. Jede weitere Steigerung sollte er nicht mitmachen.
ZEIT: In diesem Zusammenhang: Ist Oliver Kahn Ihr Vorbild?
Hildebrand: In Verhalten oder Leistung?
ZEIT: Interessant, dass Sie das unterscheiden.
Hildebrand: Ich habe großen Respekt vor seiner Karriere, was er alles gewonnen hat.
ZEIT: Können Sie verstehen, dass manche Menschen Kahn eher bedauern als bewundern?
Hildebrand: Das kann ich Ihnen nicht sagen.
ZEIT: Was Sie persönlich angeht, auch nicht?
Hildebrand: Ich tue beides.
ZEIT: Wofür das Bedauern?
Hildebrand: Es fällt mir schwer, darüber zu reden, weil ich genau weiß, was das für ein Medienecho auslösen wird – aber gut: Ich denke, in seinem Alter, mit seiner großartigen Karriere hätte er diese Aggressivität nicht nötig.
ZEIT: Wenn wir Sie zu Kahn fragen, geht es uns darum, was Sie aus seiner Karriere für sich lernen.
Hildebrand: Vielleicht spiegele ich mich in ihm. Ich fürchte, er macht mir unfreiwillig bewusst, was passieren kann bei Dauerdruck. Vielleicht kann ich mich seinetwegen umso besser davor schützen.
ZEIT: Weiß er das von Ihnen?
Hildebrand: Nein. Ich möchte auch vorsichtig sein in meinem Urteil, deshalb rede ich nur von seinem Verhalten auf dem Platz. Den Menschen Kahn kenne ich ja gar nicht.
ZEIT: Sie kennen ihn nicht? Sie haben viele Länderspielreisen mit ihm gemacht, eine ganze Europameisterschaft inbegriffen.
Hildebrand: Ja, aber da lernt man keinen Menschen kennen. Bei der Nationalmannschaft hat jeder sein Einzelzimmer und seine Kumpel. Und es ist erstaunlicherweise so, dass sich Gespräche zwischen uns drei Torhütern kaum ergeben. Wir kommen nie richtig zusammen.
ZEIT: Schaut Kahn Ihnen in die Augen, wenn Sie doch mal miteinander reden?
Hildebrand: Mir ist aufgefallen, dass er bei Interviews nie in die Kamera schaut.
ZEIT: Und Ihnen?
Hildebrand: Eher selten. Ich glaube, das ist eine Angewohnheit von ihm.
ZEIT: Der Schweizer Autor Adolf Muschg hat einmal »Literatur als Therapie« beschrieben. Fällt Kahns Buch Nummer eins auch darunter? Er schreibt da nur über sich.
Hildebrand: Ich hab’s nicht gelesen. Keine Zeit gehabt. Ich lese andere Sachen, sehr gerne Paulo Coelho, Der Alchimist, Auf dem Jakobsweg.
ZEIT: Coelho ist auch Kahns Lieblingsautor.
Hildebrand: Sehen Sie, auch das wusste ich nicht von ihm. Aber können wir bitte aufhören mit Kahn? Es ist nämlich auch nicht mehr leicht, sich als Profifußballer nicht vom Medienecho ablenken zu lassen, vom Werbebild, das für einen entworfen wird. Irgendwann kommt mancher dann an einen Punkt, an dem er sich seinem Image nicht mehr entziehen kann, wenn er nicht aufgepasst hat. Dann hat er nicht mehr nur Stress auf dem Feld, sondern auch abseits davon.
ZEIT: Aber wer überhöht die Rolle des Torwarts mehr? Die Medien oder der Torwart selbst?
Hildebrand: Ich denke, beide tragen ihren Teil dazu bei. Es hat also mit den Medien zu tun und mit dem eigenen Charakter.
ZEIT: Und was hat sich der Charakter Hildebrand in dieser Sache für die Zukunft vorgenommen?
Hildebrand: Weiterhin Schlagzeilen wie »Timonator« nicht ernst zu nehmen. Und mir immerzu sagen: Das, was andere Stress nennen, ist Spannung. Es ist doch so: Torwart sein ist genau das, was ich machen will. Warum also soll ich das beklagen? Mehr kann ich nicht tun.
Das Interview führte Henning Sussebach
Nachricht bearbeitet (10-22-04 23:43)