Im Kopf bleibt Kahn die Nummer eins
Der Torhüter fügt sich in seine Reservistenrolle, aber er versteht sie noch immer nicht
BERLIN — Als er am 9. Juni das Münchner Stadion betrat, wirkte er für Momente irritiert, leicht erschrocken - und dann sah es so aus, als wollte sich Oliver Kahn verstecken. Er stand fernab vom Tor, wo sich Jens Lehmann warm schießen ließ, er versteckte die Hände in den Taschen der Trainingshose. Man konnte den Eindruck haben, Oliver Kahn habe erst in diesem Moment registriert, welche Rolle ihm wirklich zufallen würde bei dieser Weltmeisterschaft.
Warum bin ich hier? Warum spiele ich nicht? Das, sagt Kahn, seien tatsächlich seine Gedanken gewesen, und in der Halbzeitpause des Eröffnungsspiels wirkte er ganz verloren. Er blieb auf dem Rasen stehen, als die anderen in die Kabine gingen, und malte mit dem Fuß kleine Kreise ins Grün. Das Stadion, sein Stadion, in dem er gerade mit dem FC Bayern den Meistertitel gefeiert hat, nahm ihn kaum wahr, und Kahn, der normalerweise einen Käfig aus angespannter Konzentration um sich herumbaut, wirkte dann froh, mit einem Ordner plaudern zu können.
Die Entscheidung von Bundestrainer Jürgen Klinsmann, seinen Rivalen Lehmann zur Nummer eins zu befördern, hat Kahn nach dem ersten Schock akzeptiert — weil er sie akzeptieren musste. Aber verstanden hat er es bis heute nicht. Kahn fügt sich mit gutem Willen. Er wirkt ausgeglichen, sogar aufgeräumt, er lacht ein bisschen öfter, und im Fernsehen läuft derzeit ein Werbefilmchen, das den einst so verbissenen Torwart-Titan zeigt, wie er über sich selbst witzelt. „Auf der Bank ist es doch am schönsten“, sagt Kahn im Biergarten.
Das hat ihm Sympathien eingebracht, genauso wie zuvor seine emotionale Ansprache zur Lage der Fußball-Nation im April. Es gehe nicht um ihn, sondern um Deutschland, hatte Kahn mit einer Spur Pathos erklärt, als er sich nach kurzer Bedenkzeit entschlossen hatte, die WM als Nummer zwei zu bestreiten - als Herbergs- oder Beichtvater, wie jetzt oft geschrieben wurde, oder als Ombudsmann der Reservisten.
Torwart-Titan, begehrter Werbeträger, Anführer — es gibt mehrere Kahns, nur der Reservist hat noch kein wirkliches Profil. Er soll auch keines bekommen. Kahn hatte nie einen Plan für die Nebenrolle, die ihm Klinsmann zugeteilt hat. „Ich entdecke mich neu“, hat Kahn zwar gerade gesagt, aber so entspannt, wie er dabei wirkt, ist er nicht. Er sagt das ganz offen: „Außen und innen, das ist nicht dasselbe“ - und, dass er sich noch immer irgendwie als Nummer eins fühlt. Ein Spannungsfeld, sagt Kahn, wie er es noch nicht erlebt hat. Er ist fit, er ist in sehr guter Form, und er hat immer gewusst, dass er das sein würde. 24 Monate lang, sagt Kahn, hatte er sich ganz gezielt auf diesen 9. Juni vorbereitet, mental und physisch. Auf sein letztes ganz großes Ziel. Dass er nicht im Tor stehen würde, dafür war in seinen Gedanken kein Platz.
Und es sollte auch sein ganz persönliches Turnier werden, seit dem WM-Finale von Yokohama 2002 hatte er 2006 im Kopf. Denn in Japan und Korea spielte Kahn nahezu überirdisch, er wurde zum besten Spieler des Turniers gewählt - und machte am Ende den einen Fehler, der das Finale für Brasilien entschied.
„Ich“, sagt er zunächst, wenn er daran denkt, um sich dann zu korrigieren: „Wir haben verloren.“ Aber er, Kahn, wollte das ganz besonders wieder gutmachen. Es geht weiter, immer weiter - das ist schließlich sein Motto, damit hat er sich manchmal ganz bewusst zum einsamen Streiter stilisiert, und damit hat er tatsächlich so viele Niederlagen weggesteckt: zum Beispiel den Sekundentod mit dem FC Bayern im Europacupfinale gegen Manchester United in Barcelona, zwei Jahre später hielt er gegen Valencia drei Elfmeter und gewann doch die Champions League.
Aber jetzt geht es nicht weiter. Vorgestern ist er 37 Jahre alt geworden, diese WM ist seine vierte und letzte, nur eine hat er als Nummer eins erlebt - und spielen kann er jetzt nur noch, wenn etwas Außergewöhnliches passiert. „Aber ich will ja dem Jens Lehmann nichts Böses wünschen“, sagt er. Lehmann und Kahn meiden weiterhin jede Nähe; „es wäre sinnlos, das jetzt noch großartig zu ändern“, sagt Kahn. Wenigstens die Rivalität soll erhalten bleiben - und wenn nur als äußeres Zeichen des eigentlichen eigenen Anspruchs.




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