Der frustrierte Animateur
Oliver Kahn mag sich nicht mit der Rolle der Nummer 2 im deutschen Tor abfinden
Von Heiko Rehberg
München. Oliver Kahn stand in Gedanken versunken auf dem Rasen des Münchener WM-Stadions, als plötzlich neben ihm der Schwede John Alvbage auftauchte. Seine deutschen Mannschaftskollegen bejubelten ein paar Meter weiter den 2:0-Sieg im Achtelfinale, Kahn nicht. Er schaute nur kurz auf, als Alvbage neben ihm stand. Der Schwede trägt wie Kahn die Nummer 12, er ist ebenfalls der Ersatztorwart, und er wollte das Trikot tauschen mit dem Deutschen. Kahn drückte es Alvbage wortlos in die Hand, so wie das einer eben tut, der der Meinung ist, dass die „12“ für ihn eine völlig unangemessene Nummer ist, weil er sich als Nummer 1 fühlt. Einer, der dieses Trikot so gerne loswerden würde. Nicht nur an John Alvbage von Viborg FF.
Kahn galt bislang als eine Art Team-Animateur der Nationalelf. Er hat sich damals, nach der Entscheidung für Jens Lehmann als neue Nummer 1, überraschend schnell entschlossen, mit zur WM zu fahren. Er hat sein Versprechen, sich nicht frustriert zurückzuziehen, gehalten und versucht, den Motivator für die Ersatzleute zu spielen. Klinsmann hat ihn dafür öffentlich gelobt, zuletzt nach dem Schweden-Spiel. Viele junge Profis im Kader schauen auf den 37-Jährigen. Aber mit jedem Sieg und jedem Tag fällt es Kahn schwerer, diese Rolle weiter auszufüllen.
In einem Gespräch mit dem Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ ist heute nachzulesen, wie es um Kahns Innenleben bestellt ist. Seine Aussagen passen zu den Bildern, die von ihm während und nach dem 2:0 gegen Schweden zu sehen waren. „Ich habe Jürgen Klinsmann gesagt, dass ich das nie nachvollziehen und verstehen werde, warum ich nicht mehr die Nummer 1 bin.“ So wird er zitiert. Kahn beklagte das Fehlen einer Erklärung – „bis heute“. Er habe lediglich gehört, dass Jens Lehmann einen Tick besser sein solle. „Entschuldigung“, sagte Kahn, „wechselt man die langjährige Nummer 1 aus, wenn diese konstant spielt und wenn ein anderer einen Tick besser sein soll?“
Kahn sieht bis heute keinen Grund, die Nummer 1, also ihn, abzusetzen. Aus dieser Überzeugung ist der innere Konflikt entstanden, der ihm nun während der WM zu schaffen macht. Kahn hat damals bei seinem Entschluss, nicht aufzuhören, das große Ganze für wichtiger erklärt als sein persönliches Torwartschicksal. Und trotzdem lässt sich nachvollziehen, wie schwierig die Situation für ihn ist, besonders bei Spielen in München.
Während sich die anderen deutschen Reservisten in der Halbzeit mit dem Ball beschäftigten, ging Kahn auf und ab, das blaue Reservistenleibchen an, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Er wirkte in diesem Moment wie ein Trainer. Nach dem Abpfiff und dem Trikottausch verschwand Kahn in der Kabine. Die Kollegen gingen ohne ihn auf die Ehrenrunde.




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