Kahn: Es gibt eine Kraft in dir, die sich unbewusst dagegen wehrt, ständig unmenschliche Leistungen bringen zu müssen. Dann kommt es zu kompensatorischen Verhaltensweisen. Bei mir waren es diese Aggressionsausbrüche - oder auch mal außerhalb des Platzes über die Stränge zu schlagen. Das ist doch oft nichts anderes, als ein Signal. Das Signal hieß: Mir wird's einfach zu viel. Ich weiß noch, damals in Dortmund...
SZ: .
.. als Sie Heiko Herrlich fast in den Hals gebissen haben...
Kahn: ... das war der Höhepunkt aller Aggressionen, die sich je in mir entladen haben. Da war irgendeine innere Kraft, die signalisieren wollte: Ich mag nicht mehr.
SZ: Wann war bei Ihnen das Gefühl, mit den enormen Anforderungen nicht mehr klarzukommen, am schlimmsten?
Kahn: Ende der Neunziger gab es eine Zeit, da war ich körperlich und geistig wirklich ausgelaugt. Training, besser werden, noch mehr Training, noch besser werden, noch, noch mehr Training, noch, noch besser werden: Dieses Rad war irgendwann überdreht. Damals wurde die Champions League noch in zwei Gruppenphasen gespielt, bei dieser Spielbelastung wusste man überhaupt nicht mehr, wo einem der Kopf steht - und dann kam die berühmte Niederlage 1999.
SZ: Im Champions-League-Finale gegen Manchester, in den letzten Minuten.
Kahn: Das war für mich die erste Konfrontation mit einer großen und wirklich schmerzvollen Niederlage - die Konfrontation mit etwas so Negativem, das ich mir nie vorstellen konnte. Dass mir so etwas passiert! Da hatte ich die Schnauze richtig voll. Und dann wurde ich auch noch Welttorhüter in diesem Jahr - mein großes Ziel. Aber wo war die Freude?
SZ: Ist es schwerer, Erfolge zu verteidigen und festzuhalten, als sie zu erreichen? Bei Robert Enke kam die Depression ja im Spätsommer 2009 zurück - zu einer Zeit, als er der Nummer eins im Nationalteam sehr, sehr nahe war.
Kahn: Ich kenne das Gefühl. Als ich die Nummer eins geworden war, habe ich gedacht: Wo ist denn jetzt die Konkurrenz? Wen soll ich denn jetzt noch verdrängen? Das ist eine völlig andere, veränderte Situation. Das beste Beispiel ist Michael Rensing - der war immer gut, wenn er für mich gespielt hat. Als er es geschafft hatte, Nummer eins beim FC Bayern zu sein, als er selbst in der Verantwortung stand, da ist er offenbar mit den Ansprüchen nicht zurechtgekommen.
Kahn: Ich habe immer gesagt: Wenn du am Gipfel bist, geht es nicht höher. Um noch höher hinaus zu kommen, muss man sich selbst auf die Schultern steigen.