Bei allen Differenzen in der Beurteilung einer Situation behaupte ich mal, dass jeder Journalist erheblich sinnvollere Noten für Torhüter vergeben würde, wenn er sich vorher hier im Forum umsähe...
Ich kann die Listen teilweise nachvollziehen, denn natürlich sind ter Stegen, Leno oder Ulreich sehr positiv aufgefallen. Weidenfeller und Neuer aus Bewertungen rauszulassen oder ihre Leistungen derart zu relativieren, nur weil sie nicht genug Paraden zeigten, ist allerdings schon aufgrund der aufgestellten Kriterien an mangelndem Sachverstand nicht zu überbieten.
Mal ein relativierendes Beispiel: So sehr ich ter Stegen für ein extrem großes Talent halte, ist er ein gutes Beispiel dafür, wie ein Torwart auf dem schmalen Grad zwischen Hype und Krise wandelt. Bei einigen Flanken segelte ter Stegen durch, ohne das Pech zu haben, dass hinter ihm einer den Kopf reingehalten hat. Er hat ein paar Mal den Ball ungünstig prallen lassen und dann auch das Glück, dass da kein Abstauber stand. Das Gegentor im Pokal gegen Schalke zum 2:1 hatte in dieser Spielphase und ohne den folgenden Bock von Unnerstall durchaus das Potenzial, seiner Mannschaft das Spiel zu kosten. Lasst alles ein bisschen anders laufen und wir reden nach fünfzehn BuLi-Spielen von der ersten großen Krise des so hoch Gelobten.
Kommen wir zu Neuer: Natürlich hat Neuer noch Luft nach oben und er war für mich max. die Nr. 2 oder 3 in der Hinrunde. Ein oder zwei waren besser, Punkt! ABER: Womöglich ist Neuer auch ohne Megaparaden am Fließband einer der Hauptfaktoren, warum Bayerns Abwehr so stabil geworden ist? Vielleicht ist er durch seine Art die Abwehr zu unterstützen und seine fußballerischen Fähigkeiten der entscheidende Grund dafür? Hat Weidenfeller nicht oft genug mit genau seiner einzigen Parade im Spiel den BvB vor einem womöglich entscheidenden Gegentor bewahrt, wenn es noch 0:0 oder 1:0 stand? Hat das Manko fehlender Paraden einen Einfluss darauf, wie positiv er mit seiner Erfahrung auf die junge Abwehr und die ganze junge Mannschaft wirkt? Diese Parameter werden vollkommen außer Acht gelassen. Und dann ist da noch die generelle Frage nach der Kompetenz von Journalisten in Sachen Torwartspiel. Wie komplex sich das darstellt und wie sehr man in die Tiefe gehen (können) muss, um eine sinnvolle Einordnung vorzunehmen, kann man doch hier bei uns im Forum fast täglich lesen.
Ihr wisst, ich bin ein extremer Verfechter des modernen Torwartspiels, weil es sich (andere Meinung als z.B. Anadur) ganz erheblich auf den Mannschaftserfolg auf Basis moderner Systeme auswirkt - weitaus mehr als irgendwann zuvor. Bestes Beispiel ist hier Weidenfeller: Hätte er seinen Stil nicht geändert und sich auf Basis seiner Defizite nicht noch recht passabel angepasst, wäre der Erfolg Dortmunds nicht denkbar gewesen. Das ist nicht zu beweisen und ich weiß, dass ich für so eine provokante These Kritik bekomme. Doch so sehe ich das. Vollkommen außer Acht gerät die Auswirkung im offensiv-startegischen Sinn. Die Ballbehandlung, über die Neuer verfügt, lässt ihn zu einem zwölften Feldspieler werden, der auch als Ausgangsposition des Offensivspiels eine vollkommen neue Dimension des Torwartspiels kennzeichnet. Die jungen Torhüter sind hier schon gut, wie insbesondere ter Stegen. Nur gibt es Grenzen in der Auswirkung auf das GESAMTE Spiel, die bislang nur Neuer durchbrochen hat.
Also: Selbst wenn Neuer relativ wenig Situationen hatte, um sich öffentlichkeitswirksam auszuzeichnen und ganz klar nicht am Optimum gespielt hat, sprechen einige Dinge dafür, ihn mit seinen Leistungen immer noch sehr weit oben zu positionieren in einer Rangliste. So sehr man Neuer und Kahn in der Spielweise unterschiedlich beurteilen muss, so vorsichtig sollte man sein, Kahn mit seinen Leistungen jenseits der 30 mit Neuers erstem Jahr bei Bayern zu vergleichen. Kahn hatte anfangs große Probleme, sich mit dem neuen Spiel zurechtzufinden, dass nur noch zwei, drei Szenen pro Spiel für ihn wirklich relevant waren, anstatt wie in Karlsruhe zehn oder mehr. Das gerät leicht in Vergessenheit vor dem Hintergrund der weiteren Karriere. Im relativen Vergleich hat es Neuer sehr gut gemacht bislang. Die ganzen Dinge, die rund um den Wechsel passiert sind, sollte man auch nciht außer Acht lassen. Wie sehr ihn das beeindruckt hat, zeigte sich ja schon in den letzten Spielen bei Schalke. Dass gerade im ersten Spiel sein größter Bock der Hinrunde passierte (wobei man darüber auch streiten kann), ist vor dem Hintergrund womöglich auch erklärbar.
Also: Ich registriere diese Ranglisten, habe mir aber abgewöhnt, mich außer Kopfschütteln damit weiter auseinanderzusetzen.