Dann muss ich wohl doch noch was dazu sagen: Steffen, genau das meinte ich damit, dass ich es keinem vorwerfen kann, wenn er Schalke und die Emotionalität des Vereins nicht versteht...
Vertue Dich nicht! Ich spiele z.B. in der Nähe von Bonn, wo es eine Tongrube gab und gibt. Und es schlägt sich im Vereinslied wie auch darin nieder, dass es verhältnismäßig viele Schalker in dem Dorf und drumherum gibt. Der Stolz auf den Verein, auf die Region, darauf, dass Deutschland sich ohne "uns" Ruhrpötter sein Wirtschaftswunder hätte irgendwohin schmieren können und auch der Trotz, für alle eben ein "Ruhrpottkanacke" zu sein und in unseren Augen damit sogar gehuldigt zu werden. Ja, wir sind Kanacken, schon die Schalker Mannschaft in den 30er Jahren wurde als Polacken und Kanacken-Truppe bezeichnet. Das ist unsere Geschichte. Meine Großmutter war eine geborene Bonowski, meine Urgroßmutter eine geborene Kraschinski. Klar, laut denen alles reine Ostpreußen aus Masuren. Aber ich bin ja zum Glück etwas aufgeklärter. "Glück Auf" oder das Steigerlied sind vollkommen normale Dinge. Wenn das Steigerlied in der Arena gespielt wird, haben einige jedes Mal Pipi in den Augen. Gänsehaut! Beim Zehnjährigen und Achzigjährigen.
Meine Großonkel waren in Bochum in den Stahlwerken und einer auch in GE unter Tage. Ein Bruder meiner "Omma" war Ende der Zwanziger Torhüter einer unteren Mannschaft des S04. Ruhrpott, Zechen, Montanindustrie...das sind für mich Symbole einer Kultur und Begründer einer eigenen Sprache, nämlich meiner Sprache, des Ruhrpott-Deutsch. Ich platze jedes Mal vor Stolz, wenn jemand mir nach 20 Jahren Rheinland sagt, dass ich doch sicher aus dem Pott käme und man das nicht überhören könne. Das sind für mich Wurzeln meiner eigenen Mentalität. Wenn ich das Lied "Zeche Zollverein - wir fahren wieder ein, wir kehren wieder heim" höre, welches in Bezug auf das Kulturdenkmal Zeche Zollverein geschrieben wurde, ist das bereits Grund genug für die Gänsepelle. Viele Schalker, ja, die meisten, sind sich dieser eigenen Historie bzw. der ihres Vereins extrem bewusst und leiten sowohl Erwartungshaltungen wie auch eigene Liebe und Treue zum Verein daraus ab.
Ja, Grundwerte wie Fleiß, Ehrlichkeit, Bodenständigkeit etc. sind heute verwässert und trotzdem werden sie auf angestellte Fußballer dieses Vereins übertragen. Du wirst nicht erleben, dass trotz der Tendenz zu mehr "Zuschauern" im Stadion einer sich traut zu pfeifen, solange die Mannschaft unten eines zum Ausdruck bringt: 100 %igen Einsatz für das Trikot, das sie tragen. Zeigen sie den nicht, wird die Stimmung aber auch nirgendwo so finster wie in den Stadien von Duisburg, Bochum, Essen, Dortmund oder Schalke.
"Wir im Ruhrpott": Wie kann es sein, dass seltsamerweise der Schalke-Fan in Baden-Württemberg beim Wort Ruhrpott nicht anders fühlt, als der aus Gelsenkirchen oder Bottrop. Die Stadt hat die größte Arbeitslosenquote, Schalke ist sogar der größte Arbeitgeber. Die Straßen sehen aus, als würde es mal langsam Zeit für einen "Ruhrpott-Soli". Der Verein ist seit bald 60 Jahren kein Meister geworden, hat aber über 100.000 Mitglieder und ist nach den Bayern der zweitbeliebteste Verein in Deutschland. Das kannst Du nur mit Faszination erklären und etwas Besonderem, das dieser Verein in vielen Menschen auslöst - in und außerhalb des Ruhrgebietes. Das zu verstehen, ist zugegeben schwierig. Denn so sehr die Menschen früher schuften mussten, so sehr muss man sich gegenüber Bayern- oder Sonstwas-Fans verteidigen, ein Schalker zu sein. Und trotzdem diese Faszination? Ja, genau!
Und deshalb fallen die Reaktionen bei Neuer so extrem aus. Wie gesagt, über die Form und Inhalte mag man streiten, doch Neuer hat sich zu dieser Lebenseinstellung "Schalker" bekannt und diese Klaviatur gespielt, wie wohl niemand zuvor. Er hat sich in dieser Emotionalität gesult und davon in seiner Karriere wie auch dabei, diese Spielauffassung profilieren zu können, extrem profitiert - als Torwart und als Werbeträger auch monitär.
Neuer hätte sich dessen bewusst sein müssen und auch seine diesbezüglich unfähigen Berater. Dass ihm Zehntausende die pure Entäuschung und Abneigung entgegen schreien, hat er selber zu verantworten. Die verbalen Ausreißer sind schade, denn sie lenken davon ab, dass wir Schalker aus unserer eigenen Tradition und unserem Selbstverständnis heraus das Recht haben, diesem Söldner zu zeigen, was wir von ihm halten. Ob andere uns dieses Recht zusprechen oder nicht, ist uns relativ egal. Nur hätte man das besser ausdrücken können als manch idiotisches Banner.