Ja, aber...
Ich sehe die Spielweise an sich als vollkommen alternativlos an, wenn man eine Spielweise definieren will, die einen Torwart mit den entsprechenden Grundfähigkeiten der Torwarttechnik zu einem Spieler macht, der defensiv- und offensivstrategisch Einfluss nimmt und taktisch in ein Gesamtkonzept eingebunden werden kann. Es gibt dabei zwei Probleme:
1. Wann oder bis wohin ist ein Risiko berechtigt und wann bzw. wo wird es zum Bumerang? Grundsätzlich ist eine Chance, die gar nicht entsteht, die beste Möglichkeit, ein Tor zu verhindern. Wir können nicht mit Daten oder Fakten vergleichen, ob ein Risiko in einer Situation ok war, weil der Torwart ohne das Risiko zu nehmen sogar noch weniger Chancen gehabt hätte, das Tor zu verhindern oder ob es zu viel war, weil die Aussicht auf Erfolg relativ zu gering war im Vergleich dazu, die Situation auf sich zukommen zu lassen. Ich bin - sagen wir mal "intuitiv" - überzeugt, dass das Risiko, das ein proaktiv handelnder Torwart eingeht, weniger Gegentore einbringt, als wenn jemand sich defensiver verhält. Insoweit stellt sich mit nicht die Frage, ob Kahn oder Neuer, sondern da ist Kahn für mich bei aller Vorbildlichkeit z.B. im 1gegen1 nicht mehr als idealtypisch tauglich. Das ist so, als würde man sagen: "Wir haben mittlerweile zu viel Elektrik im Auto und 50% davon sind Unsinn." Es gibt nunmal Weiterentwicklungen und die muss man auch entsprechend der Spiel- und Trainings-Philosophie an den Mann bzw. die Frau bringen. Neuer kann schließlich nicht nur mitspielen. Er ist ja auf der Linie und im 1gegen1 ebenfalls herausragend, wenn auch nicht ganz so spektakulär wie Kahn. Ich würde die Frage daher nicht stellen, ob die Antipoden im Mitspielen nun Neuer oder Kahn sind bzw. wem da zu folgen ist oder ob es ein Mittelweg sein sollte. Neuer ist dem Idealbild gemäß moderner Ansprüche nämlich deutlich näher als Kahn. Was überhaupt kein Vorwurf an Letzteren ist!
2. Wie kann ich als TW-Trainer oder Torwart erreichen, dass ich möglichst nahe an die ideale Grenze komme, in jeder Situation die richtige Vorgehensweise zu haben? Risiko verwirklicht sich ab und an, das liegt in der Natur der Sache. Bei Neuer ist das Risiko schon mal nicht zu kontrollieren. Und im Falle solch "unkontrollierten Risikos" geht es eben richtig nach hinten los. Ich mahne schon seit langem an, dass Neuer ein wenig "kontrollierter" werden muss. Neuer versucht gerne mal, seiner Mannschaft so stark zu helfen, dass er es überreizt. Er nimmt sich dann zu "wichtig". Also sind wir hier auf einer Linie. Nicht aber sehe ich grundsätzlich die Spielweise als problematisch an, da sie die Norm definiert, die durch moderne mannschafts-taktische Ansprüche vorgegeben wird. Oder andersrum: Je besser der Torwart dieses Spiel beherrscht, desto variabler und offensiver kann ein Trainer mannschaftstaktisch agieren lassen. Neuer macht ja eigentlich kaum Fehler in den klassischen Disziplinen wie im 1gegen1 oder auf der Linie. Er geht ab und an über das vertretbare Risiko hinaus, das ist der Punkt. Vielleicht dauert es einfach noch das ein oder andere Jahr, bis er die Reife hat, hier den richtigen Kompromiss zu finden. Alles in allem sehe ich Neuer aber trotzdem mit weitem Abstand als (nahezu) idealen Vertreter einer an den modernen Fußball angepassten Torwartspielweise an. Und so möchte ich auch als TW-Trainer ausbilden - natürlich immer unter dem Vorbehalt der individuellen Potenziale eines Torwarts!!!
Mein Credo lautet daher: Es gibt beim Mitspielen immer das Risiko, dass ich eine Situation falsch einschätze, und ich unterstütze einen Torwart gleichwohl dabei, den Mut zum Risiko zu haben. Aber ich muss versuchen, mein Spiel bzw. das eines Torwarts, den ich trainiere, so aufzubauen, dass möglichst viel Kontrolle über das Geschehen behalten wird. Je weiter ich mich davon entferne, desto eher passieren solche Dinge, wie wir sie bei Neuer schon des öfteren gesehen haben. Je passiver ich agiere, desto größer ist aber auch das Risiko, mit einer Situation konfrontiert zu werden, die ich ebensowenig kontrollieren kann, wie wenn ich über das Ziel hinausschieße. Wir vergessen in all den Diskussionen, die wir hierüber schon geführt haben, dass sich eben auch in einem zurückhaltenderen Torwartstil Risiken befinden. Die treten dann vielleicht nicht so deutlich zu Tage, wenn sie sich verwirklichen, führen aber genauso zum Gegentor. Und das ist das letztlich entscheidende Kriterium.
Das Ding von Neuer gestern ist für mich eigentlich im Rahmen dessen, was kurz vor Ende eines Spiels passieren kann. Da geht es um Sekunden und Neuer gibt Vollgas, um seiner Mannschaft die letzte Chance zu ermöglichen. Daraus entspringt ein technischer Fehler bei Vollgas. Kurioserweise ist ihm das vorletzte Saison schon mal in hannover passiert, aber so was passt eigentlich nicht in die Grundsatzdiskussion, die wir führen. Da reden wir eher über so ein Ding wie gegen Gladbach oder wie er letzte Saison gegen Dortmund einen Ball nur mit viel mega viel Massel ablaufen konnte.