18.5.1958: Schalke 04 ist wieder Deutscher Meister

Die Knappen sind am Ziel ihrer Träume: Am 18. Mai 1958 wird der FC Schalke 04 durch einen 3:0-Endspielsieg über den Hamburger SV zum siebten Mal Deutscher Fußballmeister. Im fünften und letzten Teil unserer 58er-Serie dreht sich alles um die richtige Taktik eines Österreichers, eine Rarität des Kapitäns und eine Stadt, die Kopf steht.
Das Ausmaß der Euphorie begreifen die Schalker Spieler erst, als sie am Tag nach dem Finale kurz nach 19 Uhr mit dem Zug auf dem Gelsenkirchener Bahnhof eintreffen. Gut 200.000 Menschen sind auf den Beinen, um den Deutschen Meister zu feiern. "Da standen mir die Tränen in den Augen", erinnert sich Manfred Kreuz später, der mit seinem Tor den Schlusspunkt zum 3:0-Sieg gegen den Hamburger SV setzte. "Alles war so voller Menschen, man hätte sich einfach von oben fallen lassen können und wäre doch immer aufgefangen worden."
Der Empfang der Meistermannschaft wird natürlich im Fernsehen übertragen, doch dieses Medium hat noch keine große Verbreitung. Die Fans wollen selbst dabei sein, um die Nachfolger der goldenen Generation um Ernst Kuzorra und Fritz Szepan zu empfangen. Die beiden einstigen Führungsfiguren sind wie auch Ötte Tibulsky, Hermann Eppenhoff und Walter Zwickhofer selbst anwesend, um die Mannschaft von Trainer Edi Frühwirth zu begrüßen. Doch das Gedränge am Bahnhof ist zu groß. Selbst die einstigen Helden werden von der Woge der Begeisterung fort getragen.
Ausgelöst hat sie eine Partie, über die kritische Stimmen anmerken, dass die Schalker in dieser nicht ganz zur überragenden Form der Endrunde gefunden hätten, in der man dreimal in mitreißender Manier gegen Eintracht Braunschweig (4:1), Tennis Borussia Berlin (9:0) und den Karlsruher SC (3:0) siegte. Doch gegen den Hamburger SV geht es einzig darum, ein Endspiel zu gewinnen. Im Niedersachsenstadion präsentieren sich die Blau-Weißen nicht nur effektiv, was das Ausnützen der Torchancen angeht, sie treffen auch in taktischer Hinsicht die richtigen Entscheidungen - im Gegensatz zu den Norddeutschen.
Beim HSV haben die glänzenden Kritiken für die Schalker ihre Wirkung nicht verfehlt. Zwar hat man selbst seine drei Partien der Vorrunde gegen den 1. FC Nürnberg (3:1), den 1. FC Köln (3:1) und den FK Pirmasens (2:1) ebenfalls gewonnen, doch man orientiert man sich ganz am Gegner: Schalke nicht ins Spiel kommen lassen lautet die Devise. Dafür rücken die Hamburger von ihrer bewährten abwartenden Taktik ab, attackieren den Kontrahenten gleich zu Beginn.
Fast geht dieser Plan auf, als Joachim Krug nach einer Linksflanke ungedeckt am zweiten Pfosten auftaucht. Doch der Außenstürmer jagt den Ball aus sieben Metern über die Latte. Schalke geht seinerseits mit dem ersten gelungenen Spielzug in Führung: Manfred Kreuz schickt Willi Koslowski auf rechts steil, dessen aufsetzende Flanke köpft Kapitän Berni Klodt aus fünf Metern zum 1:0 nach nur fünf Minuten ein. "Ausgerechnet ein Kopfballtor vom Berni", wundert sich Koslowski noch heute. "Das war eine echte Rarität - und im Endspiel macht er eins."
In der Folgezeit beherzigt Schalke 04 das, was ihnen Trainer Edi Frühwirth in der Kabinenansprache mit auf den Weg gibt: "Enttäuscht die Fans nicht", erinnert sich Mittelfeld-Dauerrenner Heiner Kördell. Es sind mindestens 30.000 Schalker im Stadion, obwohl beide Vereine trotz eines Fassungsvermögens von 85.000 Zuschauern nur jeweils ganze 9000 Karten zugeteilt bekommen haben.
Die Königsblauen geraten aus dem Häuschen, als ihre Mannschaft nach einer halben Stunde nachlegt. Das sieht ganz einfach aus, geht aber für die Hamburger zu schnell: Koslowski kann eine Linksflanke in der oberen rechten Ecke des Strafraums annehmen, wird nicht angegriffen und spielt einen Kurzpass auf Klodt. Der trifft ansatzlos aus 13 Metern ins rechte untere Eck: 2:0 für Königsblau!
Neutrale Beobachter erwarten nun eine blau-weiße Gala, doch dafür ist der Schalker Respekt vor dem HSV zu groß. Und das ist gut so: Die Hamburger brauchen Raum für ihr schnelles Angriffsspiel. Und den geben ihnen die Knappen nicht.
So hat es Trainer Frühwirth immer wieder mit seiner Mannschaft besprochen, seit man am Donnerstagnachmittag vor dem Spiel im Hotel Georgenhof in Bad Nenndorf vor den Toren in Hannover eingetroffen ist. Trainiert wird nur noch sporadisch. Vor allem Läufe und leichte Sprints sind dann angesagt, häufiger stehen jedoch Spaziergänge auf der Tagesordnung, Kartenspiele und ein Kinobesuch sorgen für Zerstreuung. Alle Gedanken sollen sich nur auf den Sonntag richten. "Geht raus, schießt sofort ein Tor, dann wird alles einfacher", lautet einer der Kernsätze des österreichischen Coaches. Im Niedersachsenstadion setzt seine Elf ihn perfekt um.
Auch andere Maßnahmen Frühwirths erweisen sich als klug. So lassen die Königsblauen ihren Gegner bis zum Strafraum kommen, machen dort aber die Räume ganz eng. Nationalspieler Uwe Seeler wird in Doppeldeckung genommen: Karnhof sucht den Zweikampf, Otto Laszig sichert hinter ihm ab. Sie erhalten - abgesehen vom Matchwinner Klodt - neben den ebenfalls zweikampfstarken Helmut Sadlowski und Karl Borutta die besten Kritiken. Auch Torhüter Manfred Orzessek ist bei allen Aktionen sehr aufmerksam.
Einigkeit herrscht darüber, dass der HSV eine Klasse besser als ein Jahr zuvor agiert, als man Borussia Dortmund im Finale mit 1:4 unterlegen war. "Schalkes Sieg ist wertvoller, denn er wurde nicht geschenkt, sondern musste erkämpft werden", vergleicht die Westdeutsche Allgemeine Zeitung beide Finals am Tag danach.
Einen Erfolg mit mehreren Toren Unterschied hat Ernst Kuzorra selbstbewusst angekündigt. Seine Vorhersage tritt ein, weil Kreuz bei einem Entlastungsangriff rund zehn Minuten vor Schluss mit einem satten Schuss ins rechte Eck das 3:0 gelingt. "Die Hamburger hatten nach der Pause noch einmal eine heiße Phase, aber nach diesem Tor wussten sie, dass die Partie entschieden war", sagt der Torschütze anschließend.
Sachlich urteilt Bundestrainer Sepp Herberger, der erstmals nach dem Krieg einem Endspiel um die Deutsche Meisterschaft fern bleibt. Ein WM-Lehrgang in München verhindert dies: "Schalke 04 hat wirklich verdient gewonnen, der HSV kam nie recht in Fahrt. Klodt hat mir gut gefallen." Umso größer ist der Jubel bei den Schalkern im Niedersachsenstadion. "Jungs, ihr könnt euch vielleicht vorstellen, was jetzt bei uns zu Hause los ist und was wir bei unserer Rückkehr erleben werden", ahnt Kapitän Klodt bereits.
Doch zunächst einmal feiert das aus sechs Gelsenkirchenern, drei Wanne-Eickelern und zwei Duisburgern bestehende Team gemeinsam. Nach dem offiziellen Bankett stürzen sich einige noch ins Nachtleben von Hannover. Auf den Sieg wird angestoßen, und am nächsten Morgen springt Heiner Kördell übermütig in den Teich des Hotels: Schalke 04 ist wieder Deutscher Meister!
18.5.1958 Schalke 04 - Hamburger SV 3:0 (2:0)
Schalke 04: Orzessek - Sadlowski, Brocker - Borutta, O. Laszig, Karnhof - Koslowski, Kördell, Siebert, Kreuz, Klodt
Karlsruher SC: Schnoor - Schlegl, Klepacz - Werner, Posipal, Meinke - Krug, Stürmer, Seeler, Piechowiak, Reuther
Tore: 1:0 Klodt (5.), 2:0 Klodt (29.), 3:0 Kreuz (80.)
Schiedsrichter: Albert Dusch (Kaiserslautern)
Zuschauer: 85.000 (ausverkauft)

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