24.04.2008
Die Herrscher der singenden Masse
Es wird teilweise behauptet, Fußballstadien seien heutzutage das, was früher die Opernhäuser waren. Die Hauptdarsteller bei diesen Inszenierungen sind mit Sicherheit die Akteure auf dem Rasen, doch schon lange möchten sich die Zuschauer nicht mehr nur mit der passiven Rolle zufrieden geben. Beim Blick auf die Fankurven der Republik begegnet einem landesweit ein ähnliches Bild. Ganze Abschnitte des weiten Runds sind farbenfroh geschmückt, die Vereinsfarben leuchten und die dahinter steckenden Anhänger betätigen sich selbst als Schauspieler.
Sie machen wellenförmige Bewegungen, formen mit mehr oder weniger einfachen Mitteln verschiedene Bilder, schwenken riesige Fahnen und führen abwechslungsreiche Choreographien auf. Hinzu kommt der einstimmige Chor, aus dem teils strophenlange Fangesänge erklingen, die sich nach und nach auf das ganze Stadion ausdehnen. Mit diesen Mitteln entsteht eine beeindruckende und imposante Atmosphäre, die dem Beobachter durchaus Gänsehaut beschert.
Ultras bereiten Vereinen Sorgen
Die Vereine schmücken sich gern mit diesen Bildern, doch auf der anderen Seite fürchten sie sich genau vor denselben Personen, die hinter dem Spektakel stecken. Denn dieselben Fans, die Ultras, sorgen immer häufiger auch für schlaflose Nächte für die Verantwortlichen der Clubs. Zuletzt für die von Eintracht Frankfurt und des 1. FC Nürnberg, deren Bundesliga-Spiel nach einer pyrotechnischen Leistungsschau aus der Nürnberger Kurve vor dem Abbruch stand.
Es dürften weniger die insgesamt 75.000 Euro Strafe sein, zu denen der DFB die beiden Vereinen verurteilt hatte, als vielmehr die Ungewissheit, die den Vereinsmachern zu schaffen macht. Man fürchtet, dass sich diese hässlichen Bilder jederzeit wiederholen könnten und man nicht mehr Herr dieser neuen Art der Fankultur wird - sprich, dass sich derartige Vorkommnisse im deutschen Fußballoberhaus festsetzen.
Doch nicht nur die Vereinsoberen plagt diese Ungewissheit, auch der Großteil der Ultras selbst erklärt sich mit diesen Methoden nicht einverstanden. Sie haben Angst "dass die wunderbare Ultrakultur dadurch ins Abseits geschossen wird, und mit ihr das Ansehen aller anderen Fans", sprach ein Fan nach den Vorkommnissen bei der Eintracht auf dem Forum der Nürnberger Ultras aus, was viele seiner Gleichgesinnten sicher denken.
Abgrenzung von gewöhlichen Fußballfans
Das Ansehen der Utlras hat schon seit geraumer Zeit gelitten - wenn es es denn jemals positiv war. Entstanden ist die europäische Ultraszene in den späten 1960ern in Italien. Jugendliche Fußballfans beschlossen damals, die Fankurven der italienischen Fußballstadien zu nutzen, um ihre ablehnende Haltung gegen soziale Ungerechtigkeiten im Land kundzutun.
Richtig organisiert tat dies zum ersten Mal die 1969 gegründete Fossa dei leoni (Löwengrube) vom AC Mailand, wobei der Begriff Ultras erstmalig in der Kurve von Sampdoria Genua auftauchte, und daraufhin von den anderen aufkommenden Gruppen aufgegriffen wurde, um sich von den "herkömmlichen" Fußballfans, den Tifosi, abzugrenzen.
Diese Abgrenzung ist es auch, was die Ultras heutzutage in Deutschland unter anderem antreibt. Vor allem gegen den sich in den vergangenen Jahren immer weiter ausbreitenden Kommerz im Fußball wollen sie Zeichen setzen. "Wir Ultras in Deutschland sind eine sich ständig wandelnde Gegenkultur zu einem vollkommen durchkommerzialisierten und kalten Fußball", beschreiben die Frankfurter Ultras auf ihrer Homepage die Bewegung.
Die anfänglichen, im Ursprungsland mit von Bedeutung gewesenen, Ideale der sozialistischen Bewegung und des linken Widerstands oder später ganz und gar das rechte Gedankengut, wurde seit den 80er sukzessive abgelegt, sodass sich weite Teile der Szene heute weder als politisch motiviert noch als gewaltbereit darstellen. Ausnahmen bestätigen allerdings leider die Regel.
Pyrotechnik im Fanblock sowie die Organisation aufwendiger Choreographien mussten fast zwangsläufig auch auf die deutschen Fußballfans eine Anziehungskraft ausüben, so dass sich die zuvor eher an englischen Vorbildern orientierende hiesige Fanszene seit Mitte der 90er Jahre auch der Ultramanie hinzugeben begann. Bis heute ist die Szenerie immens gewachsen, so dass mittlerweile nahezu alle deutschen Fankurven durch Ultragruppen dominiert werden.
Spruchbänder und Megafone wie in Mailand oder Rom gibt es mittlerweile auch von Rostock über Essen bis Freiburg. Und alle, die hinter den Spruchbändern mithüpfen und singen, träumen davon, einmal auf den Zaun zu kommen, wo der sogenannte Capo mit dem Rücken zum Spielfeld sitzt und die homogene Masse dirigiert.
Keine dumpfen Schläger
Vor allem die extrovertierte Art der Vereinsunterstützung und die Selbstdarstellung der Ultras mit Hilfe von aufwendigen Blockchoreographien, Bewegungen, Spruchbändern, Papptafeln, Schwenkfahnen, Doppelhalten, großen Überziehfahnen, Trommeln, Dauergesängen, Einpeitschern mit Megaphonen und der enge Zusammenhalt der Gruppe fasziniert jugendliche Fußballanhänger.
Der Hannoveraner Ultra-Forscher Gunter A. Pilz ordnet sie der Gruppe der 16- bis 23-Jährigen zu und beschreibt sie - entgegen mancher Vorurteile - nicht als dumpfe Schläger, wie man sie stattdessen in der Hooligan-Szene findet. Für die Ultras ist ihre Szene mehr als nur eine Art neuer Fan-Club, vielmehr entspricht sie einer eigenen Lebenseinstellung. Auch gehört dazu, Teil einer eigenständigen neuen Fußballfan- und Jugendkultur zu sein, was bedeutet, dass sie im Gegensatz zu den Hooligans nur eine Identität besitzen - ihre Ultra-Identität - die sie eben auch innerhalb der Woche praktizieren.
Ihre gemeinsamen Feindbilder sehen sie alle nur etwa zwei Blöcke von sich entfernt: die Reichen und Mächtigen. Die Bewegung möchte Zeichen setzen gegen den Medien- und Kommerzfußball sowie die Profitgier. Seitdem aus Stadien Arenen und aus Vereinen Aktiengesellschaften geworden sind, fühlen sich viele Fans ihrer Heimat beraubt und als Statisten einer gigantischen Inszenierung benutzt.
Oh du schöne alte Zeit
"Wie sehr vermissen wir mittlerweile die verstaubten konservativen Vereinslogen, die Tradition und den Familiensinn innerhalb eines Fußballvereins", drücken die Eintracht-Ultras ihre Sehnsucht nach der verloren geglaubten Fußball-Romantik aus. In der Mainmetropole bildete sich laut Pilz die erste und auch heute größte Ultra-Gruppierung, weshalb die Frankfurter Szene in anderen deutschen Szenen bei individuellen Nuancen auch als Vorbild und Trendsetter gilt.
Doch rechtfertigt die Kritik am modernen Fußball den Einsatz von verbotenen Mitteln? Mitnichten, findet der Kern der Ultras selbst: "Nach den Ereignissen von Frankfurt sehen wir es als einen Akt der Vernunft, uns klar von der Verwendung von Pyrotechnik in Bundesliga-Stadien zu distanzieren", kritisieren die Club-Ultras die Vorkommnisse in ihrem Block und fordern von ihren Gefährten: "Verzichtet auf Böller, Fackeln und Rauchpulver!" Doch wie kommt es trotz der gegenteiligen Einstellung vieler Ultras dennoch zu derartige Aktionen oder gar zu Ausschreitungen?
Ultras? Hooligans? Hooltras!
"Es bildet sich innerhalb der Fanszene und insbesondere bei den Ultras eine meiner Meinung nach stärker werdende Minderheit heraus, die mehr als nur Support will und entsprechend negativ auffält", sagt Pilz. "Bei diesen Abspaltern handelt es sich meist um sehr junge Leute zwischen 13 und 16 Jahren, die auffallen wollen und für die Randale eine Faszination darstellt." Laut dem Professor, für den sie weder Hooligans noch Ultras sind, stellt diese Gruppe ein großes Problem dar. "Ich nenne sie Hooltras."
Besonders bei Auswärtsspielen der jeweiligen Vereine kommt dieser Hang zur Randale zum Ausdruck. "Bei Heimspielen sind sie alle lieb und nett, doch bei Auswärtsspielen denken sie dann, sie können die Sau rauslassen", meint Pilz, der auch in der Uefa-Kommission "Ethics and Fair Play" vertreten ist.
In erster Linie wüßten sie, dass sie ihrem eigenen Verein mit verbotenen Aktionen auf eigenem Terrain schaden würden. Als weitere Gründe nannte er die geringere Kontrolle der Auswärtsfans und den geringeren Bekanntheitsgrad in den fremden Stadien. "Außerdem wollen sie mit ihren Provokationen der heimischen Fans die Eroberung des fremden Territoriums signalisieren."
Polizei als Feindbild
Erschwerend für die Eindämmung derartiger Handlungen kommt hinzu, dass sich sowohl bei Ultras als auch bei teilweise "normalen" Fußballfans ein weiteres Feindbild in den Köpfen festgesetz hat: die Polizei. "Fußballfans sind keine Verbrecher", ist ein allseits bekannter Ruf und so sehen sich auch die Frankfurter der "Polizeiwillkür" ausgesetzt: "Heutzutage bist du als Fußballfan nicht mehr als ein Spielball der Exekutive."
Laut Pilz reagieren deshalb besonders die nach gemeinsamer Zugfahrt und dem ein oder anderen Schluck Bier beseelten Auswärts-Fangemeinschaften sehr sensibel auf den Anblick der Ordnungshüter. Für die Polizei sei deshalb die richtige Einschätzung der Lage entscheidend. "Es ist ganz wichtig, dass die Polizei nicht gleich bei der ersten brenzligen Situation dazwischenschlägt, sondern erst versucht, sie zu entschärfen", denkt der Professor und sieht in Konfliktmanagern den Schlüssel zum Erfolg.
Die zivil gekeideten Beamten hätten die Möglichkeit, Unruhestifter anzusprechen und auf die Weise auf sie einzuwirken. "Konfliktmanager können durch Einflussnahme auf die richtigen Leute die Situation entschärfen und in 80 Prozent der Fälle hat dies zum Erfolg geführt." Erst wenn "auch sie nichts bewirken können" empfielt Pilz den Polizeieinsatz.
Selbstkritische Analyse erforderlich
Doch dazu soll es, wenn es nach den Ultras selbst geht, erst gar nicht kommen. "Jetzt wo man in Deutschland schon von einer 15-jährigen Entwicklungsgeschichte der Ultra-Mentalität sprechen kann, beginnt man langsam aber sicher, sich zu hinterfagen", behaupten die Eintracht-Ultras und belegen damit auch Pilz' These, wonach die Ultras zurzeit am Scheideweg stünden.
"Sie müssen sich ernsthaft überlegen, ob sie ihren Verein unterstützen oder lieber sich selbst feiern möchten." Er sieht darin eine "sehr spannende Frage" und fordert eine "selbstkritische Analyse". "Sie müssen lernen, dass es auch andere Menschen als sie selbst gibt!" Zudem gäbe es in Deutschland große Gruppen, die sich gegen die Missstände engagieren und diese müsse man stärken.
Dass der Großteil der angesprochenen dies begriffen zu haben scheint, bestätigen die Aussagen der Frankfurter, die sich zwar weiterhin von der allgemeinen Anhängerschar abgrenzen wollen, doch gleichzeitig wissen, dass "wenn man dies zu weit treibt, entzieht man sich der Masse, der man eigentlich Herr werden will, um sie hüpfen und tanzen zu lassen."
Zumindest aber scheint man hierzulande noch weit entfernt von italienischen Verhältnissen, wo Ultras schon ganze Stadien beherrschen, den Fanartikel-Verkauf kontrollieren oder sogar Waffengewalt angewandt wird. Auch der Bochumer Akteur Marc Pfertzel weiß von den dortigen Zuständen zu berichten. Er kam vor der Saison vom AS Livorno und sagte gegenüber dem Magazin Spiegel: "Es gibt viel größeren Druck durch die Zuschauer. In der Woche vor einem Derby kann man nicht ausgehen, weil die Ultras sagen: 'Wenn wir dich vor dem Spiel in der Disco sehen, machen wir dich fertig.'
"Italienische Horroszenarien in Deutschland undenkbar"
Fanforscher Pilz denkt auch nicht, dass in Deutschland mittelfristig zu derartigen "Horrorszenarien" kommen kann, da zum einen in Italien seiner Meinung nach die Politik jahrzehntelang versagt hätte und es zum anderen eine ganz andere Mentalität gäbe. In Deutschland dagegen sei man auf einem guten Weg: "Der DFB hat sich dieser Aufgabe langfristig gestellt indem er die sogenannte Task Force aufgelöst hat und eine langfristige Kommission eingerichtet hat." Er schätzt zudem den intensive Dialog zwischen den Vereinen und der Polizei.
Auf die Gastgeber der kommenden Europameisterschaft sieht Pilz indes keine Probleme zukommen. Das liegt zum einen an der guten Zusammenarbeit zwischen den einzelnen teilnehmenden Länder, die uns schon bei der WM entspannte und gewaltfreie Tage beschert hatte. Zudem seien Ultras eher im Vereinsbereich angesiedelt, so dass sie als homogene Gruppe eher seltener bei Länderspielen auftreten.
Schade eigentlich, wird sich manch Fernsehzuschauer oder Stadionbesucher sagen, wenn er sich die farbenfrohen Bilder aus den Fankurven in Erinnerung ruft. Es bleibt jedoch zu hoffen, dass man diese Bilder nicht irgendwann auch als Vereinsfan aus seiner Erinnerung herauskramen muss.
Deswegen versuchen auch die alteingesessenen Frankfurter Ultras Aufbauarbeit in ihren eigenen Reihen zu betreiben, indem sie "altbekannte Werte" wie "Zusammenhalt, Loyalität, Ehrlichkeit und gegenseitiges Unterstützen in allen Lebenslagen" den "jüngeren Mitglieder der Gruppe mit auf den Weg geben".
André Hoffmann für sportal.de