Dann packen wir doch mal einen aus. Exemplarisch ist das 2:0, wo Yann Sommer wie angewurzelt steht und nicht mal eine einzige richtige Bewegung zum Ball macht.
Technische Informationen :
Videodatei 25 fps = 40 ms pro Bild
Ballgeschwindigkeit: 10 Frames für 11 Meter = 400 ms für 11 Meter = 0,4 Sek für 11 Meter = ca. 99 km/h
Situationsanalyse Spiel Italien gegen Schweiz, 52. Minute
Das 2:0 für die Squadra Azzurra markiert große Probleme der Schweizer Defensive. Das Barella den Ball niemals zu Locatelli spielen können, und Locatelli dann völlig unbedrängt und mit über 80 Quadratmeter freiem Raum um sich herum zum Schuss kommen darf, steht auf einem anderen Blatt. Doch die 80 Quadratmeter sind einfach etwas, was man sich vor Augen führen muss, weil es zeigt, wie desorganisiert die Schweiz in dieser Phase einfach war, wieviel Raum diese der italienischen Auswahl überlassen haben.
Unsere Situationsanalyse beschränkt sich aber auf Yann Somer, und der Frage, ob er als Torwart den Ball hätte halten können, oder sogar halten müssen. Die Unterscheidung zwischen KANN- und MUSS-Ball ist eine Sache, denn oft kann ein Torwart Bälle halten, wenn er in bestimmten Situationen die korrekten Entscheidungen trifft. Dann ergibt sich eine Möglichkeit der Ball Abwehr und diese nennt man dann KANN-Bälle. Ein MUSS-Ball hingegen ist dann ein Ball, wo nicht nur die Möglichkeit bestanden hat, sondern auch vom zeitlichen Rahmen und den bisherig, dem Torhüter zugeordneten technischen und taktischen Fertigkeiten ein solcher Ball absolut lösbar gewesen wäre. Wenn also ein Torwart dem Stürmer im Weg steht, sich aber aus unerfindlichen Gründen beim Schuss voll wegduckt, dann ist dies kein KANN-Ball, sondern ein MUSS-Ball.
Wir steigen daher in die uns zur verfügung stehenden Bilder ein und versuchen, eine kleine Situationsanalyse. Wir beginnen daher bei folgendem Video :
Sportschau- Zusammenfassung/Highlights Europameisterschaft 2021 Italien gegen Schweiz
Wir beginnen unsere Analyse in Minute 2 Sekunde 46. Hier hat Locatelli den Ball angenommen, vorgelegt, ausgeholt und wir haben in Frame 13 die eigentliche Schusslösung. Also den Moment, wo der Ball den Fuss verläßt. Insgesamt haben wir immer 25 Bilder pro Sekunde, sehen also ca. 40 ms Sprünge von Bild zu Bild. Der Ball bewegt sich mit ca. 99 km/h und überbrückt daher 11 Meter in ungefähr 10 Millisekunden. Die Distanz zum Tor beträgt in etwa 20 Meter. Yann Sommer steht in Grundstellung zentral im Tor, ca. einen Meter vor der Torlinie.
Eigentlich alles optimal, doch warum gelingt Locatelli das Tor? Ist der Ball wirklich unhaltbar, wie die Kommentatoren es gesehen haben, oder hätte Yann Sommer den Ball um den Pfosten lenken können?
Halten wir fest, daß - und dies ist eine persönliche Erwartung an einen Torwart der internationalen Klasse - ein Torwart sein Tor in der Zielverteidigung abdecken können sollte, also bei einer zentralen Stellung OHNE Nachstellen direkt aus einem Auftakt die 3,5 Meter flach in die untere Torecke schaffen sollte. Und meine weitere persönliche Meinung ist, daß bei freier Sicht ein Torwart bei Abschlüssen aus 18 Metern eigentlich die komplette Torfläche von 24 englische Fuss auf 8 englische Fuss, entsprechend 17,86 Quadratmeter abdecken sollte. Dies sind die technischen Voraussetzungen, die ich an einen Torwart anlege, und wir reden hier nicht über Profis oder internationale Klasse. Für mich ist also ein Schuss aus 18 Metern frei vor dem Tor nicht bloß ein KANN-Ball, sondern das sind in meiner Erwartungshaltung MUSS Bälle.
Trotzdem haben wir einen Abschluss aus 20 Metern in die vom Torwart aus linke untere Ecke, und der Torwart zeigt nicht den Hauch einer Abwehrbewegung... Warum?
Ich glaube, dies werden wir in der Analyse nicht beantworten können und für den Zuschauer, werden wir es aus den zur Verfügung stehenden Bildern auch nicht ableiten können. Dies obliegt dem Torwarttrainer, damit dieser sich die Szene mit seinem Torwart anschaut, seine Entscheidungen hinterfragt und somit das komplexe Gesamtbild aus Sicht des Torwart, externer Ansicht aufgrund bewegter Bilder und den Erzählungen des Torwarts zur Situation dann entsprechend rekonstruiert. Ihm allein obliegt dann die Entscheidung, ob und wie er mit seinem Torwart dann aus solchen Analysen herausgeht, ob er Ihm dann das Tor anlastet.
So ist dann was wir hier tun, fern dieser Dinge, ABER es soll ein Anhaltspunkt sein und ein Stück weit zeigen, was in solchen Situationsanalyse passiert.
Zurück zu den bewegten Bildern, wir haben also in Minute 2, Sekunde 46, Frame 13 dann die Schusslösung.
Frame 13 - Schusslösung, der Ball verläßt den Fuss von Locatelli
Frame 17 - Ball passiert die beiden Abwehrspieler, Yann Sommer hat sich nur leicht aufgerichtet und die Hände etwas nach aussen bewegt. Zudem beginnt er mit dem Auftakt und setzte den linken Fuss nach links aussen leicht vorwärts
Frame 22 - Ball passiert den 11 Meter Punkt, Yann Sommer hat die Auftaktbewegung mit dem Fuss abgeschlossen, er beginnt das Gewicht in Richtung Ballnahes Bein zu verschieben
Frame 23 Yann Sommers Leithand bewegt sich in Richtung Ball
Minute 2, Sekunde 47, Frame 1 Yann Sommers ballferne Schulter bewegt sich in Ballrichtung, die Ballferne Hand kommt vor den Körper
Frame 3 - Der Ball passiert die 5 Meter Linie, Yann Sommer verharrt förmlich in einer tiefen Stellung, doch es erfolgt keine weitere Bewegung in Richtung Ball.
Frame 5 - Yann Sommer beginnt die Leithand fallen zu lassen, auch die ballferne Hand sinkt.
Frame 6 - Schnittpunkt Aktionslinie Torwart und Ball
Frame 7 - Ball hat den Torwart passiert
Frame 9 - Ball erreicht die Torlinie
Frame 10 - Ball hat die Torlinie vollumfänglich überschritten, Yann Sommer ist eingesunken und schaut nu dem Ball hinterher.
Aus dieser Perspektive können wir nicht ermitteln, ob der Torwart den Ball hätte halten können, aber wir können feststellen, daß die Bewegungseinleitung bereits nach wenigen Sekundenbruchteilen nach der Schusslösung durch Yann Sommer aufgenommen und abgeschlossen war. Warum es dann nicht zu einer dynamischen Abdruckbewegung gekommen ist, erklären diese Bilder nicht. Yann Sommer setzt eigentlich lehrbuchmäßig seinen Auftakt in Ballrichtung, doch anstelle der raschen Gewichtsverlagerung, bleibt seine Hüfte beständig eher zwischen den Füssen, anstelle sich in Ballrichtung zu verschieben. Zwar geht seine Leithand ansatzweise in Richtung Ball, aber auch dies eher zögerlich. Hatte er mit dem Abschluss nicht gerechnet? Ist er "eiskalt" erwischt worden?
Aus der Vogelperspektive erkennen wir in Minute 3, Sekunde 2, Frame 1 exakt den Moment, wo der Ball den Fuss verläßt. Locatelli steht vielleicht 2 Meter aus der Zentralen Achse nach rechts vom Torwart aus gesehen versetzt und ja, es sind 20 Meter bis zum Tor. Yann Sommer steht einen Meter vor der Torlinie, sein linker Fuss ist auf der zentralen Mittelachse, er steht also nicht wirklich mittig, sondern um ca. 0,5 bis 0,8 Meter nach rechts versetzt.
Minute 3, Sekunde 2, Frame 5 - Der Ball hat die Abwehrspieler passiert. Was isch von der Seite noch als Bilderbuch Auftaktbewegung zeigte, ist nun in der Vogelperspektive ein fataler Fehler, denn anstelle den linken, damit ballnahen Fuss zu bewegen, beginnt Yann Sommer den rechten, Ballfernen Fuss nach rechts auszustellen.
Frame 9 - Yann Sommer hat den rechten Fuss nach aussen gesetzt und beginnt un, sein Gewicht in Richtung linkes Bein zu verschieben.
Frame 11 - Er dreht sich dem Ball leicht zu, die Leithand bewegt sich Richtung Ball, auch die ballferne Hand bewegt sich Richtung Ball
Frame 14 - Die Hände gehen immer noch Richtung Ball, der gerade die 5er Linie überschreitet, doch wir sehen es deutlich: Yann Sommers Hüfte "hängt" zwischen den Füssen, es ist kein Gewicht auf und über dem ballnahen Bein, die breite Fussstellung wird hier zum Nachteil, weil er für einen Abdruck die Hüfte und damit das Gewicht keinesfalls mehr über den ballnahen Fuss bekommt.
Frame 17 - Der Bewegungsabbruch ist die Folge... der Ball ist vielleicht einen, höchstens 1,5 Meter von Yann Sommer entfernt, ein Ball, den er leicht mit reiner Körperlänge im Kippen erreicht hätte.
Frame 21 - Der Ball überschreitet die Torlinie, ca. 0,5 Meter vom linken Pfosten entfern.
Wir erkennen also, daß aus der seitlichen Sicht zunächst alles gut ausgesehen hat und wir nicht verstehen konnten, warum trotz guter Bewegung der Torwart nicht in die Bewegung gekommen ist. So wird jedoch in der Vogelperspektive klar, daß diese Bewegung unter keinem guten Stern gestanden hat. Scheinbar rechnete Yann Sommer nicht mit einem Abschluss von Locatelli und war daher eher bereit, sich nach rechts zu Verschieben, wo er damit rechnete, daß Locatelli in seinem Sichtfeld erscheinen müsste, wenn er die beiden zentralen Abwehrspieler passiert.
Doch Locatelli hat den Ball nicht mitgenommen um weiter nach links, aus Yann Sommers Perspektive nach rechts, zu verschieben, um die Abwehrspieler zu passieren. Nein, Locatelli schließt direkt und hinter den beiden ca. 16 Meter vor dem Tor stehenden Abwehrspielern ab.
Yann Sommer steht daher nicht zentral, noch scheinbar bereit für den Abschluss. Zudem bewegt er anstelle das Ballnahe Bein das Ballferne Bein, bringt damit sein Gleichgewicht und seine Ausgangslage klar ein eine nachteilige Position, zudem entfernt er sich zusätzlich mehr vom Ball, als sich darauf zu zubewegen. Schon beim Abschluss ist seine Ausgangslage nicht optimal, aber für die Distanz noch im Bereich des Möglichen, denn der passierende Ball zeigt, daß die Distanz zwischen Torwart und Ball gar nicht so groß und weit gewesen war, sondern Yann Sommer wahrscheinlich nicht mal 2 Meter hätte überbrücken müssen, um diesen Ball zu halten. Doch da er keinerlei Gewicht auf dem Ballnahen Fuss hat, die tiefe Stellung seiner Hüfte zwischen den Füssen zudem eine rasche Gewichtsverlagerung verhindert und sein Auftakt nicht mit dem Ballnahen Bein geschied, kann er einfach keine Abwehrbewegung einleiten. Er hat sich mit der Bewegung des rechten Beines, seiner tiefen Ausgangsstellung und der nicht optimalen Ausgangsposition völlig selbst blockiert. Dabei wäre die falsche Ausgangsstellung nicht mal tragend gewesen, aber der falsche Beginn, zusammen mit dem extrem tiefen Stand blockieren Yann Sommers Bewegung letztendlich.
Somit kann man abschließend sagen: Der Ball ist absolut ein KANN-Ball, also ein Ball auf das Tor, den man halten KANN. Aber von einem Torwart, der als Bester seines Landes gilt, der zudem in einer Mannschaft mit internationalen Ambitionen spielt, sogar in vieler Hinsicht als Paradebeispiel des Torwartspiels gilt, erwartet man, daß er einen solchen Ball ablenkt. Es ist also ein MUSS-Ball. Diesen Ball muss ein Torwart in dieser Klasse einfach halten, und das es nicht passiert, ist ein Beispiel, warum die Schweiz dann letztendlich es nicht geschafft hat.
Yann Sommer reihte sich mit seiner Leistung damit nahtlos in die Leistung der Mannschaft ein, befriedigend, ausreichend, aber nicht herausragend oder sogar überragend. Sein Gegenüber im Tor der Italiener war deutlich motivierter und deutlich herausragender.
Dies kann man dann auch im letzten Gegentor des Spieles sehen, denn auch dieser Ball ist mehr als ein KANN-Ball. Denn Yann Sommer erreicht diesen Ball, doch seine Körperhaltung, seine Handführung... alles passt nicht. Doch dieser Ball ist ein Aufsetzer, daher wesentlich schwerer und daher auch wenn er diesen so erreicht kein MUSS-Ball, aber eben ein KANN-Ball. Und in internationaler Klasse wird im internationalen Vergleich eines solchen Turniers nur der weiter kommen, der von diesen KANN-Dingen einfach mehr verwertet und zu seinen Gunsten nutzt.