Nun, ich weiß ehrlich gesagt nicht, ob die Jugendlichen früher so respektlos (natürlich nur teilweise - generalisieren ist hier gefährlich) waren, wie sie es heute sind...

Zu deinem Anliegen, Schnapper:

Es fehlen einem die Worte angesichts solcher Geschehnisse. Es gibt Gründe dafür, dass manche Leute die Nachrichten nicht mehr sehen und die Zeitung nur im Kapitel "Sport" oder "Feuilleton" aufschlagen. Tun sie Recht damit? Oder müssen wir, die wir die Augen vor solchen Dingen nicht verschließen, sie aus diesem Grunde verurteilen?

Ich weiß es nicht. Ich finde es natürlich, dass ein Mensch die Augen schließt, um sich selbst vor Schaden zu bewahren. Also ist es natürlich. Ist es deswegen menschlich? oder verständlich?
Ich selbst habe von diesen Dingen nicht viel mitbekommen, Schnapper. Das muss ich ehrlich so zu geben. Wir stumpfen ab - mit jeder Katastrophenmeldung, mit jedem Sterben, jeder Verzweifelungstat und jeder Hiobsbotschaft. Ich merke es selbst an mir. Nachrichten. Zufällig zwischen zwei Fernsehprogrammen werfe ich einen Blick hinein. Die erste Meldung: Wieder 10 Menschen in Afghanistan bei Straßenkämpfen gestorben. Der Gedanke, dass es wenigstens nur 10 und nicht 150 sind, begleitet mich zum Spiefilm, den ich eigentlich sehen wollte, während ich umschalte. So pervers es auch klingen mag. Es entspricht leider der Wahrheit.
Ich sehe keine Nachrichten, da es mich krank macht diese perfekten Frisuren, gebügelten Anzüge und gebundenen Krawatten zu sehen, die in einem monotonen Singsang von menschlichem Versagen berichten. Ja, ich bezeichne es bewusst als "menschliches Versagen", da ich es als ein solches ansehe.

Ist es das Versagen der beobachtenden Mitmenschen, die scheinbar tatenlos mitansahen, wie einer der ihren bis zur Unkenntlichkeit zusammengeschlagen wurde, den im weiteren Verlauf noch schlimmeres wiederfahren sollte? Oder ist es die pure Angst in deren Angesicht wir vergessen, dass dort zu unseren Füßen ein Mitmensch liegt und es eine menschliche Selbstverständlichkeit ist, ihm zu helfen? Ist es Egoismus oder kann diese Angst gerechtfertigt sein?
Ich könnte das nur beantworten, wenn ich bereits in einer solchen Situation gewesen bin. Einer Freundin zu helfen, die bedroht wird ist eine Selbstverständlichkeit, obwohl man dann selbst Schläge einstecken muss. Ich kannte sie. Ich hatte einen persönlichen Bezug zu ihr und ihre Verletzung würde auch mich tief treffen. Ich würde mit ihr leiden, ich wollte sie nicht leiden sehen. Deshalb griff ich ein.
Wie verhält es sich mit jemanden, den ich noch nie gesehen habe, zu dem ich keinerlei Beziehung habe außer diesen einen Blickkontakt, während dessen er am Boden liegt? Es ist müßig jetzt zu schreiben, ja, ich würde sofort zur Hilfe eilen. Ich kann es nicht wissen. Ich ziehe den Hut vor denjenigen, die es tun, doch genau dieses Verhalten wurde letztendlich diesem Mann zum Verhängnis. Mehr als eine Grabinschrift und viel Bewunderung nach dem Tod springt dabei nicht heraus. Seiner Familie hilft das herzlich wenig! Ist es genau dieser Gedankengang, der den tatenlosen Beobachtern durch den Kopf geisterte, während sie zu Salzsäulen erstarrt nur da standen?

Ist es das menschliche Versagen der Mutter, die dieses Kind, diesen Menschen erzog? Ist es das menschliche Versagen des Vaters, der sich für die Erziehung seines Kindes nicht interessieren konnte/wollte? Oder trifft die Eltern keine Schuld, da sie taten, was sie konnten? Sind es immer die Eltern? Ist es der Staat? Sind es die Freunde der betreffenden Person oder der soziale Umgang?
Leider werden sich diese Fragen immer nur gestellt, wenn es zu spät ist. Dann versucht man Schuldige zu finden, sie in der Öffentlichkeit zu demaskieren und zu unmenschlichen Ungetümen aufzublasen. Das ist dann der Grund, wegen dem manche Nachts wieder ruhig schlafen können. Ein immer wieder aktuelles Beispiel: Amokläufer. Nach einem solchen Geschehniss wird der komplette Familienkreis bis zur letzten Generation auf psychische Krankheiten geprüft, der Computer auseinander genommen, die Freunde befragt und Eltern untersucht. Man inspiziert das Zimmer auf etwaige Blutspuren von Mücken, die der Junge in einer ersten Gewaltausartung totschlug. Aha. Ein Psychopath! Er spielte diese berüchtigten "Ballerspiele", seine Eltern waren Workoholics und sein Haustier war ein Kampfhund, der sich immer gerne mit den Nachbarskatzen anlegte. Et voilà - im Handumdrehen haben wir unseren entmenschlichtes Monster, dass aus einer tiefen Quelle der Depression und Gewalt eine solche Tat beging. Zu schwierig wäre es für uns Menschen die Absurdität dieses ganzen Prozesses anzuerkennen genauso wie die Tatsache, dass genau das sich in Zukunft nicht nur einmal wiederholen wird. Die Ermittlungen sind abgeschlossen, oben geschilderte Ergebnisse liegen vor und man kommt zum Schluss, dass menschliches und gesellschaftliches Versagen dahinter steckt. Ein weiteres Versprechen, dass Ballerspiele eingeschränkt und Kindererziehung gefördert wird und schon kann Frau Meier-Müller-Riebenseel in ihrem Bett wieder schlafen.

Versteht mich nicht falsch. Um Gottes Willen - ich wüsste nie, wo in diesem Fall die Gründe liegen oder wie ich mir ein solches Verhalten erklären soll. Deswegen versuche ich es nicht mehr. Der Versuch eine solche Handlung verstehen zu wollen erscheint mir genauso absurd wie die Handlung selbst.

Mir wurde im Geographie-Unterricht die Aufgabe bis Freitag gestellt, eine Collage anzufertigen, die sich mit meiner Vorstellung zum Thema Armut auseinander setzt. Ich grüble nicht erst seit heute über diese Geschichte, denn ich bin ein Mensch, der solche Sachen sehr ernst nimmt. Manche Schüler stellen sich vor die Tafel, an der eine Collage mit Bildern von Krieg, Mord, Todschlag und Hungersnot, die sie bei Google-Pictures gesucht, ausgeschnitten und aufgeklebt haben. Dann schieben sie verlegen die Hände in die Taschen, räuspern sich noch zwei dreimal mit dem Blick zu ihrem Schaffenswerk und fangen dann noch verlegener der typischen Einleitung an: "Also, das Thema war ja, dass ich sagen sollte was Armut für mich ist..." Das kann ich nicht. Ich kann keine Bilder raussuchen, ausschneiden, aufkleben und dann als mein alleiniges Gedankengut zu dieser Sache ausgeben. Es sind meist Fotos, die um die ganze Welt gehen, die mindestens eine Million Menschen kennen. Sollen diese Fotos also ausreichen, um die täglichen Leiden eines Mitmenschen einzufangen? Keine Ahnung, ob ich das so auf schwarz-weiß bringen könnte. Noch bin ich ahnungslos, wie ich diese Aufgabe bis Freitag löse.

Fragen über Fragen. Wie gesagt - die Suche nach Antworten habe ich fast aufgegeben. Warum ist die menschliche Seele manchmal abgrundtief? Was ist das Pulverfass und was der Funken, der solch schockierende Ereignisse auslöst? Fragen über Fragen.
Nicht zuletzt habe ich mir gesagt, dass die Absurdität dieser Geschehnisse nicht zu begreifen ist. Ich habe etwas an mir, dass mich weiterhin immer daran erinnert, wie unmenschlich wir Menschen sein können. Deswegen schaue ich nicht gerne Nachrichten, weil ich von Anfang an weiß, was mich erwartet.