Nachdem der Begriff „Antizipation“ nicht nur in diesem Thread, sondern immer wieder vorkommt und es dabei öfters zu Missverständnissen kommt, versuche ich mal zu erklären, was sich hinter diesem Wort verbirgt.
Allgemein bezeichnet der Begriff „ Antizipation“ die Fähigkeit, sich eine Zukunft vorzustellen, ein Ziel festzulegen und dementsprechend zu handeln. Diese Definition ist einfach verständlich, gibt aber nicht viel konkretes her. Den Gesamtablauf dieser untereinander in wechselhafter Abhängigkeit stehenden Schritte, wird antizipatorisches System genannt. Eine einfache Definition dieses Systems bringt uns ein Stück weiter: „Ein antizipatorisches System ist ein System dessen jetziger Status von einem zukünftigen Status bestimmt wird; der Grund liegt in der Zukunft“. Der Abstoss als einfaches Beispiel dazu: Ich lege den Ball hin (=jetziger Status), damit ich ihn treten (=zukünftiger Status) und somit ins Spiel bringen kann (=in der Zukunft liegender Grund).
Wie das Beispiel mit dem Abstosszeigt, ist die bisherige Definition doch recht schlicht und deswegen kann man diese sinnvollerweise auch erweitern und präzisieren: „Ein antizipatorisches System ist ein System das zukünftige Modelle von sich und/oder seiner Umgebung enthält, die es ihm erlauben seinen jeweiligen Status sofort in Abhängigkeit vorhersehbarer zukünftiger Veränderungen innerhalb der Modelle zu wechseln.“ Wenn wir das jetzt auf den Abstoss beziehen, so kommen jetzt plötzlich die anderen Spieler und die Gesamtsituation auf dem Feld in Form von Modellen zum Tragen. Das einfachste Modell wäre, alle würden still auf der Stelle stehenbleiben und es wäre keine Bewegung auf dem Platz; eine Veränderung innerhalb dieses einen Modells wäre es jetzt, wenn ein einziger Spieler sich auf einem festgelegten Laufweg mit festgelegter Geschwindigkeit bewegen würde. Damit ist klar, dass es in der Realität unendlich viele Modelle und ebenso unendliche viele Möglichkeiten von Statusveränderungen gibt. Kein Mensch ist in der Lage unendliche Prozesse zu verarbeiten und wenn wir zum ersten Mal in unserem Leben einen Abstoss sehen, hält unser Gehirn dieses Bild fest und wir haben das erste Modell dazu gespeichert. Da wir aber zuvor schon Menschen laufen gesehen haben, haben wir dazu auch schon Modelle abgespeichert und Modelle zum Thema Ball haben wir seit dem Tag, wo wir den ersten Ball unseres Lebens rollen sahen ebenfalls schon gespeichert. Deswegen ist Antizipation auch ein Lernprozess; je mehr wir uns mit etwas beschäftigt haben, umso mehr Modelle haben wir „auf Lager“ und das Ergebnis wird dann meist „Erfahrung“ genannt.
Ich hoffe, ihr konntet mir bis hierhin folgen, denn jetzt kommt eine präzisere Definiton von Antizipation: „Antizipation ist die Erzeugung einer Vielzahl von dynamischen Modellen menschlichen Handelns und die Lösung von deren Konflikten.“ Um im Beispiel zu bleiben: Wer rennt wohin, wer steht frei, wer läuft sich frei, wie spiele ich an, also hoch oder flach, in den Lauf, in den freien Raum oder auf den Fuß, wie weit kann ich den Ball überhaupt bringen? All diese Fragen resultieren aus der Vielzahl, in unserem Fall sogar der Unendlichkeit, der dynamischen Modelle und ihre Antworten bergen jede Menge Konflikte. Die Geschwindigkeit mit der man diese Prozesse ausführt, ist die „Antizipationsgeschwindigkeit“; die dafür benötigte Zeit, ist die „Antizipationszeit“.
Ich habe extra die Abstosssituation als Beispiel gewählt, denn hier hat der Torwart Zeit und kann diese Fragen auch mittels Überlegen lösen. Dies kostet aber sehr viel Zeit, und wenn ihr euch jetzt in diese Situation gedanklich rein versetzt, stellt ihr fest, dass ihr wahrscheinlich auch schon Abstösse ohne Nachdenken gemacht habt; einfach Ball hinlegen und weg das Ding. Ist er bei eurem Mann angekommen, dann habt ihr richtig antizipiert. Viele andere Aktionen auf dem Platz lassen dem Torwart keine Zeit zum Überlegen und dann wird das Handeln ausschliesslich per Antizipation bestimmt.
Übrigens wird nach diesem Prinzip auch jede einzelne Bewegung von uns gesteuert...