@Icewolf
Ich bin mir nicht sicher, ob dein Beispiel für die Aussage von Scholl, nicht allzusehr im Systemfussball haften zu bleiben, sondern wieder mehr Raum für individuelle Kreativität zu schaffen, damit das langweilige Ballgeschiebe (Ballbesitzfussball), um das Spiel wieder schnell und damit auch interessanter fürs Publikum zu machen.
Ein Torwart hat während seiner Ausbildung gelernt, dass es situativ von Vorteil sein kann, wenn er nicht aus der momentanen Position das Spiel eröffnet, sondern zunächst bis zur Strafraumgrenze geht, um sich ggf. auf dem Weg dorthin anders zu entscheiden, weil sich eine bessere Alternative bietet. Bei deinem Beispiel hat er sich offensichtlich richtig entschieden, weil sein Mitspieler sofort Tempo mit dem Ball aufnehmen kann, anstatt mit dem Rücken zum gegnerischen Tor zunächst den Ball mitzunehmen und dann erst aufdrehen zu können. Auch darf der Keeper davon ausgehen, dass sein Mitspieler über genügend individuelle Qualität besitzt, um etwas besseres als einen schlampigen Pass in die Füße des Gegners zu schlagen.
Allerdings gibts ja auch den umgekehrten Fall! Man stelle sich einen Distanzschuß vor. Der Torwart kann durch schnelle Positionsanpassung den Ball eigentlich sicher fangen. Stattdessen entscheidet er sich für eine spektakuläre Hechtparade (weil er davon ausgeht, dass soetwas seinen Chefcoach und das Publikum mehr imponiert). Um im Anschluß nochmals in den Fokus zu stehen, entscheidet er sich dafür, den Ball ins Seitenaus zu lenken. Der anschließende Eckball wird an die Grenze des 5-er geschlagen, jedoch unterläuft der Keeper den Ball und darf ihn anschließend aus dem Tor holen. "Jetzt fallen alle Leute mit Fußballer-Heren rückwärts um." Da hätte er doch einfach den Ball besser fangen und wegdreschen können.
Ich glaube, Scholl hat soetwas wie "Schwarmintelligenz" gemeint, in der jedes Teammitglied Impulse schafft, die seine Mitspieler zu noch besseren Leistungen animiert. Stattdessen wird "Sicherheitsfussball" propagiert. Wenn man Thomas Müller glaubt, dann geht es hier um 5 %, die letzendlich den Unterschied ausmachen sollen. Naja, eine Abwägung des Risikos mag sinnvoll sein, sollte jedoch nicht dahin führen, das man die gegnerische Taktik lediglich spiegelt. Ich bin zwar kein Freund eines 4 : 1 : 4 : 1, aber das Team hat im Spiel gegen Peru die zentrale Achse besser besetzt als in den Spielen davor. Hier kommt es aber auch darauf an, wie es von den Spielern interpretiert wird. Löw hat den Spielern scheinbar Freiheiten gegeben, weil er sich selbst nicht genau daraüber im Klaren war, wie es gegen Peru laufen würde?
Beim Systemspiel, das er m.E. teilweise zu recht bemängelt, geht es darum, die Trainervorgaben perfekt umzusetzen, obwohl spätestens zur Halbzeit eine Reaktion hätte erfolgen müssen, weil der Gegner so nicht zu bezwingen war. Die Reaktion hätte sein können, das Spieler auf dem Platz ihre Aufgaben so interpretieren, um der Mannschaft besser helfen zu können. Wenn z.B. Bälle zu leicht verloren werden, dabei nicht nachgesetzt wird. Dann erkenne ich doch, dass die Mitspieler sich gar nicht bewegen, sodass es kaum Anspiele am torgefährlichen Bereich gibt. Also muß ich mich ohne Ball mehr bewegen, damit mein Mitspieler eine Anspielstation hat. Wenn ich sehe, dass es so keine Torchancen gibt, weil der Gegner das Zentrum sehr gut zustellt, dann muß ich mich mit hohem Tempo in diesen Bereich bewegen, sodass der Gegner gar nicht die Zeit findet, um sich zu sortieren. Ich denke mal, kein Trainer hat etwas dagegen, wenn seine Spieler aus guten Vorgaben noch bessere Lösungen entwickeln?
Betrachten man nun das WM-Spiel gegen Mexiko und gegen Südkorea, so hatte man das Gefühl, hier wird ein System durchgezogen unabhängig davon wie der Gegner darauf reagiert. Eine gute Ballance wäre vorstellbar gewesen, wenn man sich dort im Spiel angepaßt hätte, wo der Gegner besonders gefährlich agiert (z.B. Konter), anstatt zu warten und zu vertrauen, dass schon nichts passiert und man ein Tor macht, damit der Gegner durch mehr Risiko weitere Angriffsraume freigibt. Wenn man sich die anschließenden Analysen anschaut, dann werden hier häufig nur die jeweiligen Szenen auf Optimierungsmöglichkeiten bewertet, ohne jedoch die Ursache der Spielentwicklung zu erforschen. Problem vieler Scholl-Aussagen ist aber, dass sie viel Provokation enthalten, auch wenn er im Kern meist richtig liegt.
Je länger ich drüber nachdenke, je größer wird meine Sorge, dass wir hier grundlegende Veränderungen benötigen, weil wir mit zu viel Ballast unterwegs sind. An der Führungsspitze hat nun Rauball seinen Rücktritt erklärt, für zukünftige Aufgaben Kompetenzen zu suchen. Denn es laufen beim DFB und der DFL zuviele Silberrücken rum, die sich ihre Verdienste für den deutschen Fussball erworben haben, aber nunmehr neuen Ideen mehr Raum geben sollten.
Man wird sehen, wie sich die Führungsriege nach dem Ergebnis über die EM-Vergabe neu positioniert?